Seuchen durchziehen die Geschichte der Menschheit. Beschrieben und thematisiert werden sie, seit es Historiographen gibt. Bemerkenswert ist dabei, wie anschlussfähig in Hinsicht auf Beobachtungen und Erfahrungen die Berichte selbst antiker Historiographen im Vergleich zum Umgang mit dem gegenwärtigen Coronavirus sind. So liest man beispielsweise in Thukydides Der Peloponnesische Krieg folgende Passage zum Ausbruch der "Pest" in Athen 430 v.Chr.: "Wenn sie nämlich in der Angst einander mieden, so verdarben die Kranken in der Einsamkeit; gingen sie aber hin, so holten sie sich den Tod, gerade die, die Charakter zeigen wollten - diese hätten sich geschämt, sich zu schonen, und besuchten ihre Freunde." Die Auswirkungen für die Athener und die umliegende Bevölkerung waren verheerend. Und auch die sogenannte Justinianische Pest 541/542 n.Chr. in Konstantinopel hatte weitreichende Folgen. Inwiefern die Seuchen und deren Konsequenzen in der Antike mit den heutigen vergleichbar sind, das haben wir den Althistoriker Prof. Dr. Mischa Meier von der Universität Tübingen gefragt.
"Jeder Bericht über einen Seuchenausbruch aktiviert Urängste"
L.I.S.A: Herr Professor Meier, Sie sind ein ausgewiesener Experte der Spätantike und haben zuletzt mit Ihrem Buch zur Geschichte der sogenannten Völkerwanderung ein neues und vielrezipiertes Standardwerk vorgelegt. Recherchiert man ein wenig weiter, stößt man auf einen Band, den Sie 2005 über die Pest herausgegeben haben, also zur einer Zeit, als man gerade die SARS-Epidemie und die sogenannte Vogelgrippe hinter sich hatte. Sowohl das Inhaltverzeichnis dieses Buches als auch ein Klick auf die Wikipedia-Liste von Epidemien und Pandemien von Infektionskrankheiten zeigt, dass Seuchen zur Geschichte der Menschheit dazugehören wie viele andere Dinge auch, wir das aber offenbar aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Ist das Vergessen typisch für das Überwinden von Traumata zu jeder Zeit oder haben wir es hierbei eher mit einem Vergessen (in) der Moderne zu tun?
Prof. Meier: Die Geschichte der Menschheit lässt sich in der Tat auch als eine Geschichte von Krankheiten und Seuchen schreiben. Es ist sicherlich kein Zufall, dass schon das früheste Werk der antiken Literatur, die Ilias, ausgerechnet mit einer ‚Pest‘-Beschreibung beginnt. Wohin man auch blickt in der Geschichte (und Gegenwart): Bei näherer Betrachtung wird man feststellen, dass Epidemien immer auch irgendwie und irgendwo präsent sind. Von einem „Vergessen (in) der Moderne“ würde ich daher auch nicht sprechen – aus zwei Gründen: Zum einen gewinnt die Geschichte eine andere Periodisierung, wenn man sie aus einer medizinhistorischen Perspektive betrachtet. Die Moderne beginnt dann ohnehin erst mit der Phase, in der man die Wirksamkeit und Gefahr erkannt hat, die von mikroskopisch kleinen Erregern ausgeht, und in der man begonnen hat, sich mit deren Bekämpfung und entsprechenden Schutzmaßnahmen auseinanderzusetzen. Das aber ist erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts geschehen. Medizinhistorisch ragt also das, was wir landläufig „Vormoderne“ nennen, ohnehin bis weit in die „Moderne“ hinein. Zum anderen glaube ich, dass uns die Gegenwart epidemischer Krankheiten durchaus auch vor Covid-19 stets bewusst war; wir sind zwar in unserem europäischen Alltag bisher weitgehend davor verschont geblieben, aber wenn man etwa auf die weltweiten Befürchtungen und Diskussionen blickt, die erst vor wenigen Jahren der Ebola-Ausbruch in Westafrika verursacht hat, dann erkennt man rasch: Es geht hier weniger um ein Verdrängen oder Vergessen als ein Auslagern in andere, vermeintlich ferne Regionen. Vielleicht war auch einfach das Vertrauen in sofort greifende medizinische Schutzmaßnahmen (Impfungen etc.) zu groß. Aber die Präsenz epidemischer Krankheiten würde ich dem allgemeinen Bewusstsein jedenfalls auch in der Moderne nicht absprechen. Jeder Bericht über einen noch so fernen Seuchenausbruch aktiviert unmittelbare Urängste.