Bußkamp: Die Kulturrevolution liegt heute 50 Jahre zurück, und die chinesische Regierung hat sie mit sich selbst offiziell „geklärt“. Wieso kam es in den letzten Jahren zu einer Aufarbeitung der westlichen Rezeption der Kulturrevolution, und warum haben Sie einen großen Teil dazu beigetragen, dass es zu dieser Aufarbeitung kam?
Wemheuer: Es ist mehr ein Nebenthema meiner Forschung. Ich habe zweimal im Unterricht Oral History-Kurse mit Studenten gemacht, einmal in Österreich und einmal in Deutschland. Die Studenten haben ehemalige Maoisten interviewt. Es hat mich auch interessiert, die heutige „brave, unpolitische“ Studentengeneration mit den Teilnehmern der damaligen Bewegung zu konfrontieren. Warum es jetzt generell mehr Forschung zum Maoismus auch in Frankreich, in den USA, in Australien in den ganzen Ländern gibt, liegt vielleicht daran, dass es jetzt eine junge Generation gibt, die selber nicht mehr beteiligt war und mit größerem Abstand das Thema als akademisches Forschungsthema wiederentdeckt. Das ist auch ein Argument, das der Kollege Daniel Leese immer wieder anführt: Dass es jetzt eigentlich um Historisierung geht und auch um eine gewisse Akademisierung des Themas und ein bisschen weg von verschiedenen Zeitzeugengruppen, die ihre dann doch sehr von den Fraktionskämpfen geprägten Erinnerungen darstellen.
Bußkamp: Meinen Sie, dass man die Aktionen der linken Kunst- und Kulturschaffenden in den 50er bis 70er Jahren als westliche Kulturrevolution einordnen kann? Inwiefern ging es um einen wirklichen Umsturz?
Wemheuer: Man soll sich auch hier davor hüten, ganz unterschiedliche Bewegungen und Aktionen und Strömungen alle unter einem Begriff zusammenzufassen. Ich denke, dass das auch ein längerer Prozess im Westen war, der früher angefangen hat. Es gibt ja zum Beispiel den Streit um diesen Mythos der sexuellen Befreiung seit 1968. In einem Buch von Dagmar Herzog geht es um die Politisierung der Lust. Sie stellt die These auf, dass die sexuelle Liberalisierung schon vorher stattfindet, in den 50er und 60er Jahren, und sogar schon zum Teil im Nazireich stattgefunden hat. Was 1968 kommt, ist dann mehr im Trend von vorigen Entwicklungen gewesen. Deswegen sollte man sich auch davor hüten zu sagen, dass es im Westen 1968 eine Kulturrevolution gab, die auf einmal alles auf den Kopf gestellt hat. Das Neue seit 1968 in vielen Ländern ist, dass neue linke politische Bewegungen entstehen, die dann wirklich auch glauben, dass in Europa eine Revolution möglich ist, ein Umsturz des Systems, ein Aufbau einer anderen Gesellschaft. Das war natürlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur eine sehr marginalisierte Vorstellung, die dann zumindest in bestimmten intellektuellen und studentischen Kreisen großen Einfluss gewann, und in Italien und Frankreich auch in Teilen der Arbeiterschaft.
Bußkamp: Bezüglich der damals Aktiven habe ich im Internet ein Zitat von Gerd Koenen gefunden, der in der taz auf die Frage: „Wie passten Anarchie und Chaos mit der Ordnungsparanoia eines totalitären Regimes zusammen?“ die Antwort gab: „Das passte zusammen. Es war ein gewollter Ausbruch anarchischer Massengewalt, der wenig mit Demokratie zu tun hatte. Denn man konnte die jugendlichen Gruppen lenken und manipulieren. Mao wurde dabei wohl eher von einer chinesisch-kosmologischen Weltvorstellung geleitet, derzufolge aus der großen Unordnung, aus dem großen Chaos am Ende die ‘Große Ordnung‘ entstehen würde. Wie ein olympischer Kaiser thronte er über dem Chaos, ließ es geschehen, zog mal diesen Faden, zog mal jenen, schickte die Armee hierhin und dorthin. Gewiss war das Kulturdiktat von Maos Gattin, Jiang Qing, hypertotalitär im Sinne der vollständigen Vereinseitigung des gesamten Kanons der zulässigen Kultur. Aber es gab eben verblüffenderweise immer auch diese anarchische Seite. Und das passte nicht zum traditionellen Totalitarismusverständnis.“
Unabhängig von dem Totalitarismusverständnis ist mir aufgefallen, dass Gerd Koenen Mao als autoritären Führer einer scheinbar chaotischen Massenbewegung charakterisiert. Wie würden Sie dies einschätzen?
Wemheuer: Es ist ganz klar. Ohne Mao hätte es die Kulturrevolution nicht gegeben und ohne Maos Unterstützung der Rebellenbewegung hätte sich niemand in der Form getraut, die Autoritäten anzugreifen. Das ist auf jeden Fall unbestritten. Ich weiß nicht, ob Sie das Buch Sleepwalker von Christopher Clark über den Ersten Weltkrieg kennen, in dem die These ist, dass die Welt ein bisschen wie ein Schlafwandler in den Krieg geschlittert ist. Ich glaube, dass es in der Kulturrevolution auch eine sehr große Eigendynamik gab. Wenn man die Schriften und auch die Dokumente studiert, dann konnte Mao sich im Sommer 1966 noch nicht vorstellen, dass im Herbst diese Massenrevolte losbricht. Er konnte sich im Herbst auch noch nicht vorstellen, dass es im Januar 1967 dann landesweit zur Machtergreifung kommen würde. Also sehe ich Mao weniger als Marionettenspieler, sondern er ist eigentlich auch sehr von der Bewegung getrieben und versucht sie dann immer wieder neu auszurichten, aber das scheitert auch sehr oft. Dass Mao am Anfang diesen großen manipulativen Masterplan hatte, den er auch durchsetzen wollte, das halte ich für historisch nicht belegbar. An dem Zitat ist richtig, dass er für bestimmte Zeit auch Chaos durchaus für förderlich hielt, weil sich die Nachfolger der revolutionären Sache herausbilden sollten (培养革命的接班人). Diese Leute, die die Revolution nur aus dem Schulbuch und aus Filmen kannten, sollten jetzt in der Praxis durch Mut und durch den Einsatz des eigenen Lebens beweisen, dass sie in der Lage sind, nach dem Tod der Generation der alten Revolutionäre das Land weiter in die richtige Richtung führen zu können, aber das ist ziemlich außer Kontrolle geraten. Ein Beispiel aus meiner eigenen Forschung in Shanxi: Es wurden die kämpfenden Fraktionen dreimal zu „Lerngruppen“ nach Peking befohlen, wo man sie dann immer etwa ein halbes Jahr im Hotel eingesperrt hat. Am Ende musste ein Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Fraktionen unterzeichnet werden. Sie sind dreimal zurückgegangen in ihre Provinz und haben dreimal die bewaffneten Kämpfe fortgeführt, obwohl die politische Vorgabe ganz klar war: Es muss ein Ende haben. Es ist aber natürlich wie in vielen bürgerkriegsähnlichen Konflikten so, dass 1967 ziemlich viele Waffen in die Hände von Massenorganisationen gekommen sind. Wenn man einmal die Kontrolle darüber verliert, wer die Waffen hat, ist das Ganze natürlich sehr schwer zu kontrollieren. Es hat dann ziemlich lange gedauert, die Bevölkerung wieder zu entwaffnen. Mao hat die Gewalt für einen gewissen Zeitpunkt in Kauf genommen, aber ich glaube nicht, dass er in der Lage war, als Marionettenspieler im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Ich glaube, dass der Totalitarismus vielleicht so eine Fantasie ist, dass manche Herrscher es gerne hätten, im Hintergrund alle manipulieren zu können, aber ich glaube, dass Gesellschaften viel zu komplex sind, als dass sie je so funktionieren können.
Bußkamp: Darf ich eine Frage einwerfen bezüglich der Mao Biographie, die Sie geschrieben haben? Darin versuchen Sie, gerade dieses mystifizierte Bild von Mao zu widerlegen. Das Buch ist relativ populärwissenschaftlich. Ist es Ihnen also wichtig, dass es in eine breitere Bildungsschicht getragen wird oder dass Aufklärung diesbezüglich stattfindet? Hat es damit zu tun, dass Sie dieses Buch geschrieben haben?
Wemheuer: Ja, ich möchte als Wissenschaftler auch ein breites Publikum erreichen, aber die Botschaft der Wissenschaft ist eigentlich: Es ist ein bisschen komplexer, als ihr euch das so vorgestellt habt. Ich versuche ja auch, differenziert zu argumentieren. Ich stelle Mao weder als den nur bösartigen Diktator dar, noch als den großartigen Revolutionär. Die größte Herausforderung solche Biographien zu schreiben ist vielleicht, in welchem Verhältnis man die Errungenschaften zu den Fehlentwicklungen und Verbrechen setzt. Man kann natürlich sagen, dass auch die ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten alle Sklavenhalter waren und wir das jetzt auf das Entschiedenste verurteilen müssen. Das Bild Andrew Jacksons zum Beispiel wird ja gerade von der Dollarnote entfernt. Man kann nicht die Verbrechen dadurch rechtfertigen, dass es auch große Errungenschaften gab. Es ist eine schwierige Frage, wie man damit umgeht. Meine Mao-Bewertung erkennt als seine große Errungenschaft die Wiederherstellung des chinesischen Nationalstaats mehr oder weniger in den Grenzen des Qing-Imperiums an. Ohne die chinesische Revolution wäre es sicher undenkbar gewesen, dass sich die globalen Machtverhältnisse so verschoben hätten, wie sie sich heute verschieben und China zur globalen Großmacht aufsteigt. Das hängt direkt mit dem Erbe der Revolution von 1949 zusammen. Deswegen kann man natürlich nicht sagen, das rechtfertigt alle Verbrechen.
Bußkamp: Ich würde gerne noch einmal auf die Kulturrevolution selbst zu sprechen kommen. Sie haben auch gestern in Ihrem Vortrag angesprochen, dass es eine Phasenteilung sowohl der Rezeption der Kulturrevolution als auch der Kulturrevolution selber gab. Und zwar, dass zunächst von 1966 bis 68 die Massen in China von unten gegen das Establishment kämpften und in der zweiten Phase ab 1969 der Parteiapparat der KPCh wieder restauriert wurde, und es wurde versucht, zu den Maßstäben der Zeit vorher zurückzukommen. In Westdeutschland fand eine ähnliche Entwicklung statt. Sie beschreiben relativ häufig in Ihren Artikeln, dass erst eine avantgardistische Haltung bezüglich Mao und der Kulturrevolution vorherrschte, dass man sich ab 1969 aber nach marxistisch-leninistischem Vorbild parteilich organisierte, und nicht etwa antiautoritär, wie es dem auslösenden Impuls entsprochen hätte. Kann man daraus auf einen Informationsaustausch schließen? Und weiterführend: Wenn es einen Informationsaustausch gab, wie konnte es dann sein, dass die Kulturrevolution und die Ideen des Maoismus trotz vieler Todesopfer scheinbar Vorbildfunktion für die Versuche einer Revolution in Westdeutschland hatten?
Wemheuer: Generell muss man sagen, dass die Revolution im Westen zeitversetzt entdeckt wurde. Der Höhepunkt der Kulturrevolution in China lag in der zweiten Jahreshälfte 1966 / ersten Jahreshälfte 1967, und China wurde ja praktisch erst 1968-69 im Westen entdeckt, nachdem der Höhepunkt in China schon vorbei war.
Mein Argument ist nicht, dass die sich angeguckt haben, was in China gemacht wird, erst antiautoritär, dann Wiederherstellung der Ordnung, und gedacht haben, das machen wir jetzt auch so. Das Argument ist eher: Die antiautoritäre Studentenbewegung wurde als gescheitert wahrgenommen. Es gab ja einen Höhepunkt, aber dann hatte man das Gefühl, es ginge nicht mehr weiter. Dann hat sich der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenverband) aufgelöst, ebenso die Kommunen 1 und 2, und die Stimmung war, dass diese antiautoritäre Phase zu Ende ist, so ging es nicht mehr weiter. Wenn man die Gesellschaft verändern will, revolutionär, auf welche Modelle kann man dann zurückgreifen? Dann entdeckte man wieder die marxistisch-leninistische Kaderpartei und die Weimarer KPD, die in den 20er Jahren die größte kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion war, und Albanien und andere Länder. Der Umschwung von diesem Antiautoritären zum Parteiaufbau ist auch ein Produkt der Niederlage der Studentenbewegung. Das gleiche gilt auch für die Rote Armee Fraktion, die RAF, die sich aus der Schwäche und der Niederlage heraus formiert hatte.
Bußkamp: Also eher zufällig?
Wemheuer: Es ist ja nicht zufällig. Viele Akteure der Studentenbewegung haben gesagt unsere Bewegung ist gescheitert, wir brauchen neue Organisationsformen und wir müssen vor allen Dingen versuchen, die normale Bevölkerung und die Arbeiter zu gewinnen. Und das ist der Moment, wo man dann sagt, wir wollen nicht nur in der Studierstube Adorno lesen, wir gehen jetzt in die Fabriken, um die Leute dort zu organisieren. Das ist ja schon aus einer gewissen Logik der Bewegung heraus verständlich. Natürlich, wenn man sich die einzelnen Biographien anguckt, ist es ein gewisser Widerspruch, dass Leute, die noch 1968 in Kommunen gelebt haben, mit Drogen experimentiert haben und mit sexuellen neuen Beziehungen, sich dann auf einmal die Haare abschneiden, einen Bundeswehr-Parka anziehen und morgens um sechs bei Opel Flugblätter verteilen. Das ist in den Biographien schon ein gewisser Bruch gewesen, aber viele antiautoritäre Studentenführer werden dann ja auch Kader in den neuen K-Gruppen. Nicht alle, es gibt auch Leute, die andere Wege gewählt haben.
Bußkamp: Dies ist also nicht in bewusster Anlehnung an China passiert?
Wemheuer: Man hat die Entwicklungen schon verfolgt, aber ich glaube, man kann es mehr aus Erfahrungen verstehen, die man selber gemacht hat. Und das ist auch der Punkt, warum China als diese Projektionsfläche funktioniert hat, weil man da einen Bezug zu seinen eigenen Erfahrungen herstellen konnte. In Italien und Frankreich ist es noch klarer, weil es dort die große Revolte der Arbeiter gibt. Dann gibt es die kommunistischen Parteien, die sagen, das läuft alles außer Kontrolle, und sich gegen die Revolte der Massen stellen und dann natürlich die Studenten, die sagen, das ist ja wie in China. Die kommunistische Partei ist reaktionär geworden, ist gegen die Revolution, das sind Revisionisten, wir müssen uns jetzt selber neu organisieren und von den etablierten kommunistischen Parteien lösen. Das machte ja für die damaligen Akteure Sinn.
Bußkamp: Inwiefern war Gewalt für die Beteiligten ein legitimes Mittel?
Wemheuer: Die Gewaltdebatte war eigentlich von Anfang an da. Es gibt ja auch schon diese früheren Papiere von Rudi Dutschke, in denen er über einen Guerillakrieg in Deutschland schwadronierte. Man muss aber sagen, dass gerade die K-Gruppen eher argumentiert haben, dass in Deutschland eine Revolution nötig ist. Die Bourgeoisie wird die Macht niemals freiwillig abgeben, also muss es auch eine bewaffnete Revolution geben. Die soll es aber erst geben, wenn die Massen das wollen. Und die haben das in die Zukunft verschoben. Deswegen haben sie viel über Gewalt schwadroniert, aber keine konkreten Schritte unternommen, um in Deutschland einen bewaffneten Kampf zu führen. Viel anfälliger dafür war das Sponti-Umfeld, aus dem ja auch große Teile der RAF kamen. Die haben argumentiert, dass in Deutschland die Arbeiterklasse sowieso korrumpiert und Teil des Systems ist, und dass in Vietnam und in anderen Ländern die Völker der Dritten Welt vom US-Imperialismus massakriert werden. Man könne jetzt nicht auf die trägen deutschen Arbeiter warten, bis die das irgendwann mal erkennen, sondern man müsse hier und jetzt den bewaffneten Kampf starten. Das war aber eine Position, die von den meisten K-Gruppen völlig abgelehnt wurde, weil sie gesagt haben, wenn jetzt schon der bewaffnete Kampf gestartet wird, obwohl die Arbeiter noch nicht so weit sind, dann wird nur Schaden angerichtet. Und dann gibt es auch unterschiedliche Positionen. Z.B. hat die KPDML den Anschlag der RAF auf das US-Hauptquartier in Heidelberg noch begrüßt, von dem auch der Vietnamkrieg koordiniert worden ist, dann aber die Entführung der Lufthansamaschine der Landshut von dem deutsch-palästinensischen Kommando scharf verurteilt, weil es in dem Moment gegen einfache Urlauber, einfache Arbeiter, ging. Da meinten sie, sie seien zwar generell für Gewalt, aber nicht in dieser Form. Und dann ist der deutsche Herbst ein Einschnitt, das beschreibt auch Koenen in seinem Buch und auch andere, die geschockt waren von der Ermordung von Schleyer und sich dann erstmal von den Gewaltdiskursen und -fantasien abgewandt haben.
Bußkamp: Darf ich noch einmal den Bogen zum Großen Sprung schlagen, um auf eines Ihrer Forschungsthemen zu kommen? Sie stellen in Ihrer Dissertation Steinnudeln. Ländliche Erinnerungen und staatliche Vergangenheitsbewältigung der „Großen Sprung“-Hungersnot in der chinesischen Provinz Henan heraus, dass die Forschung den Großen Sprung bis in die 2000er Jahre gar nicht als Schlüsselereignis der chinesischen Geschichte gedeutet hat, dass er also ziemlich untergegangen ist. Ich habe mich gefragt und würde Sie gerne fragen, ob die akademische Aufarbeitung des Großen Sprungs die westliche Sicht auf die Kulturrevolution nochmal verändert hat.
Wemheuer: Das generelle Problem haben wir schon angesprochen, dass es bei allen Themen in China und in anderen Ländern sehr starke Dominanz von städtischen Eliten gibt, die die Kurse bestimmen. Was auf dem Land passierte, ist bei allen Kampagnen noch wenig und schlecht erforscht. Die Stadtbevölkerung hat zumindest in den wichtigen Städten die Hungersnot überleben können, das Massensterben hat auf dem Dorf stattgefunden, die Bauern haben aber wenig Fürsprecher. Es gibt auch in China alle möglichen staatlichen Verbände, aber noch nicht einmal einen staatlichen Bauernverband. Es ist also eine Gruppe, die sehr schwach im öffentlichen Diskurs vertreten ist, und daher geht die Hungersnot mit viel mehr Toten als in der Kulturrevolution ziemlich unter. Ich weiß nicht, inwiefern Akademiker zur Aufarbeitung beitragen können, ob das nicht vielleicht zu viel verlangt ist. Wir machen unsere Forschung und können kleine Beiträge leisten, um bestimmte Fragen zu beantworten, aber ich glaube, die Reichweite akademischer Forschung ist nicht groß genug, um wirklich diese Aufarbeitung zu lancieren. Gerade hier geht es um chinesische Geschichte, wir können Chinesen unterstützen, indem wir ihnen eine Plattform zur Verfügung stellen, wir zu Themen forschen, zu denen manche Chinesen nicht zu forschen wollen. Am Ende muss die Aufarbeitung von der chinesischen Gesellschaft selber erfolgen.
Insofern ist es wichtig, dass nach dem Großen Sprung nach vorn, nach der Hungersnot, die Bauern eigentlich nicht mehr enthusiastisch für Maos Projekte mobilisierbar waren. Es ist kein Zufall, dass die Kulturrevolution dann vor allem bei der städtischen Jugend, die von der Hungersnot nur in sehr geringem Maße betroffen gewesen war, auf so viel Wiederhall stieß. Es gab sehr viele Widersprüche in der chinesischen Gesellschaft, die dann ausgebrochen sind, und wenn man die ganzen Publikationen der Roten Garden durchliest, ist es erstaunlich, dass Fragen des ländlichen Chinas eine sehr geringe Rolle gespielt haben. Es ist natürlich so, dass es nach dem Großen Sprungmehr Kader gab, die die Reformen ausweiten wollten. Mao stand dem sehr skeptisch gegenüber. Die Machtkämpfe in der Führung sind sicherlich ein Aspekt, aber es ist doch erstaunlich, dass viele Konflikte der Kulturrevolution eher urbanen Charakter hatten. Es gibt ein Buch über die Massentötungen in der Kulturrevolution auf dem Land von Su Yang, Collective Killings, in dem die Frage ist, ob die Massentötungen, die auch relativ spät stattfanden, auch 1968/69 Teil dieser Kulturrevolution als Bewegung waren oder eigentlich schon Teil der staatlichen Repressionskampagne. Die Frage danach, was während der Kulturrevolution auf dem Land passierte, ist also eine Frage, die weiter erforscht werden muss, und über die wir immer noch sehr wenig wissen.
Bußkamp: Bezüglich der Akademisierung, die Sie im vorherigen Punkt angesprochen haben, habe ich mir die Frage gestellt: Akademisierung, ist das Aufarbeitung? Um noch etwas zu ergänzen: Wenn man sich anguckt, wem Sie Interviews gegeben haben, so finden sich diejenigen, die im Internet veröffentlicht sind, in Medien aus dem linken Spektrum. Ich frage mich, ob das der Versuch einer Aufarbeitung insbesondere des linken Spektrums ist?
Wemheuer: Ich habe auch zum 50. Jahrestag „Voice of America“ und der „Deutschen Welle“ mehrere Interviews gegeben. Ich gebe fast jedem ein Interview, der mich fragt, auch Ihnen. Was das linke Spektrum angeht, besteht glaube ich gerade bezüglich der Hungersnot ein großes Desinteresse. Ich habe auch ein populärwissenschaftliches Buch geschrieben, Der große Hunger, was ein bisschen gefloppt ist. Ich glaube, dass es den konservativen Lesern zu differenziert ist und weder die alten Linken noch die neuen Linken sich mit dieser Hungersnot so viel befassen wollen. Die Kulturrevolution aber stößt auf größeres Interesse. Da ist auch wieder die Frage nach Aufarbeitung, es sind jetzt auch viele Leute, die das selber gar nicht mehr erlebt haben. Die haben auch nichts aufzuarbeiten. Da sind die Teilnehmer der K-Gruppen vielleicht spannender. Das ist noch ein wichtiger Punkt, den ich anbringen möchte, dass es sehr viel Erinnerungsliteratur zu 1968 gibt. Es gibt ein bisschen eine Teilung zwischen der „guten“ Studentenbewegung 68, auf die man stolz ist und die man, wie die Großväter die Kriegserlebnisse erzählt haben, bei einem Bier zum Besten gibt, aber dann die Zeit der 70er Jahre mit der RAF und den K-Gruppen, über die man eher nicht spricht. Das Buch vom Koenen, Das rote Jahrzehnt, ist natürlich sehr politisch und noch sehr vom Fraktionsgeist geprägt. Er macht sich über alle K-Gruppen lustig, aber die Gruppe des KBW, in der er war, ist dann doch immer noch besser als die anderen. Das ist ein typisches Muster von Zeitzeugen, sowohl in China als auch hier, zu sagen, ja, es war schlecht, aber die anderen waren noch schlimmer als meine Gruppe. Meine Gruppe war doch noch die vernünftigste. Das Gute an dem Buch ist der Versuch, 1968 mit den 70er Jahren zusammen zu bringen. Mich interessiert die Aufarbeitung nicht so sehr als individuelle Traumabewältigung im deutschen Zusammenhang. Es sind einige auch aus den K-Gruppen ausgeschlossen worden, es gab Psychoterror und es gab auch einige Leute, die darunter gelitten haben. Aber die K-Gruppen haben keinen Bürgerkrieg geführt oder Leute umgebracht. Es gibt im Unterschied zu den chinesischen Rotgardisten keine Verbrechen aufzuarbeiten. Natürlich, die RAF hat Leute umgebracht. Sie müssen damit klarkommen, dass sie Menschen umgebracht haben. Mich interessiert an der Frage der Aufarbeitung, dass es eine starke linke Bewegung in der Geschichte der Bundesrepublik war, die gescheitert ist. Es gibt aber vielleicht immer noch interessante Aspekte. Zwar rümpfen alle bis heute darüber die Nase, aber es hat danach keine vergleichbare linksradikale Bewegung mit großer Massenwirkung mehr gegeben. Alles was danach kam, war noch erfolgloser als die 68er und die K-Gruppen, deswegen ist auch kein großer Hochmut angebracht im Umgang mit dieser Bewegung.
Bußkamp: Abschließend würde ich Sie gerne noch in Bezug auf ihre angekündigte Abhandlung „A Social History of Maoist China“ etwas fragen. Wenn Sie jetzt ein sozialgeschichtliches Buch des maoistischen Chinas herausbringen, haben Sie da Zusammenhänge entdeckt, die Sie bezüglich der chinesischen Kulturrevolution, in Ihrer persönlichen Rezeption quasi, zu einer Neubewertung gebracht haben?
Wemheuer: Ich habe einen Ansatz gewählt, mit dem ich an die Forschung zur Intersektionalität anknüpfe, was eher aus der feministischen Forschung kommt: Es gibt verschiedene Formen gesellschaftlicher Hierarchien, wie zum Beispiel Klasse, Ethnizität, Alter, Geschlecht, die nie alleine da sind, sondern immer zusammenhängen und überlappen. Es ist völlig klar, dass es wenig Sinn macht, nur über Geschlecht zu reden ohne über soziale Identität und umgekehrt. Eine schwarze Frau in Harlem hat vielleicht andere Formen von Problemen als eine weiße Akademikerin in Harvard, um ein Beispiel zu nennen. Diesen Ansatz nehme ich für das maoistische China. Dabei geht es auch vor allem um die Klassifizierung der Bevölkerung, weil jeder einen Klassenstatus hatte, einen Hukou-Status, einen geschlechtlichen Status und einen ethnischen Status. Die Hauptfrage ist, wie der Staat die Bevölkerung klassifizierte und zu welchen Konflikten die Klassifizierung dann geführt hat. Meine Hauptthese ist, dass die Kulturrevolution als gesellschaftlicher Konflikt hauptsächlich ein Konflikt um das Klassenstatussystem war. Die erste Generation, zum Beispiel die Eltern mit schlechtem Klassenstatus, die vier Elemente, waren gebrandmarkt und durften sowieso nicht mitmachen. Die eigentliche Frage der Kulturrevolution war, was ist mit den Kindern, also der zweiten Generation. Und darunter fällt vor allem die Rebellenbewegung, zu der natürlich auch Yu Luoke und andere gehörten, die das Recht eingefordert haben, bei der Kulturrevolution mitzumachen, obwohl sie einen schlechten Familienhintergrund hatten. Diese frühe Kulturrevolution ist schon ein gewisser Kampf von den vorher Marginalisierten des Klassensystems, vor allem der zweiten Generation, gleichberechtigt teilnehmen zu dürfen. Der andere Aspekt, das Hukou-System hat in den Städten dazu geführt, dass auch Leute, die nicht in den Danweis integriert waren, viele Wanderarbeiter, vom sozialistischen Sozialstaat, von der eisernen Reisschüssel komplett ausgeschlossen worden sind. Gerade in Shanghai sind viele von diesen temporär beschäftigten Arbeitern die ganz wichtige Basis der Rebellenbewegung gewesen, die ihre Teilnahme an der eisernen Reisschüssel, am sozialistischen Sozialstaat einfordern. Ich untersuche die Kulturrevolution, jedenfalls das Jahr 1966 und vielleicht noch die erste Jahreshälfte 67, als Konflikt um das gesellschaftliche Klassifizierungssystem, den Klassenstatus und den Hukou.
Redaktion: Christopher Kerscht, Christine Moll-Murata