Etwa 25 Kilometer von der Berliner Stadtgrenze entfernt, wurde bereits während des Ersten Weltkrieges die erste Moschee Deutschlands errichtet – und zwar innerhalb des sogenannten Halbmondlagers. In diesem wurden während des Krieges muslimische Kriegsgefangene interniert und man versuchte, die Gefangenen für den Dschihad gegen die Entente zu gewinnen. Heute befindet sich auf dem Gebiet des Lagers eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Ezel Güneş, Promotionsstipendiatin der Gerda Henkel Stiftung, setzt sich im Rahmen ihrer archäologischen Dissertation mit diesem geschichtsträchtigen Ort auseinander. Im Interview spricht die Stipendiatin über die archäologische Annäherung an den Ersten Weltkrieg, die Bedeutung des Lagers selbst sowie das Potential einer Archäologie der Moderne.
"Ein vergleichsweise dichtes Netz an historischen Überlieferungssträngen"
L.I.S.A.: Frau Güneş, in einem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Promotionsprojekt beschäftigen Sie sich mit dem Zossener Sonderlager für muslimische Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg, welches etwa 25 km südlich der Berliner Stadtgrenze auf einem Gebiet errichtet wurde, das während des gesamten 20. Jahrhunderts eine bedeutende (historische) Rolle innehatte. Können Sie eingangs kurz erläutern, was die Besonderheit des Gebietes ist? Warum lohnt sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung?
Güneş: Die Besonderheit des Gebietes liegt sicherlich in der Kontinuität, mit der es über alle historischen Etappen und Brüche des 20. Jahrhunderts hinweg und bis zum heuten Tage wiederholt zu einem zentralen Ort des weltpolitischen Geschehens oder zumindest zu einem Spiegel desselben wurde. Der Grundstein hierfür wurde bereits 1907 gelegt, als das Deutsche Kaiserreich begann, das weitläufige Gebiet zwischen Zossen und Wünsdorf zum militärischen Truppenübungsplatz auszubauen. Wie auch andernorts wurde das Gelände während des Ersten Weltkrieges aufgrund der teilweise vorhandenen Infrastruktur nicht nur als Soldatenlager, sondern auch zur Unterbringung der Kriegsgefangenen genutzt. Hierfür wurden kurz nach Kriegsbeginn ein provisorisches Lager in der Nähe des Wünsdorfer Bahnhofes und später zwei weitere Lager errichtet: zum einen das sog. Weinberglager südöstlich von Zossen, in dem hauptsächlich französische und russische Gefangene interniert waren, und zum anderen das sogenannte Halbmondlager mit einer eigens dort errichteten Moschee östlich von Wünsdorf, in dem muslimische Kolonialsoldaten der französischen und britischen Streitkräfte gezielt gesammelt wurden. Dort sollten die Gefangenen für den auch auf Drängen des Deutschen Kaiserreiches im Osmanischen Reich ausgerufenen Dschihad gegen die gegnerischen Kolonialmächte gewonnen werden. Nach dem Krieg mussten die Aktivitäten am Militärstandort Zossen-Wünsdorf stark eingeschränkt werden. Das Halbmondlager blieb dennoch bestehen und wurde weiterhin genutzt, zunächst für ehemalige russische Kriegsgefangene und später als Heimkehrlager. Bereits Mitte der 1920er Jahre setzte aber unter dem Deckmantel des „Volkssports“ allmählich wieder eine militärische Nutzung ein, indem die noch verbliebenen Baracken des Halbmondlagers von der dort angesiedelten Geländesportschule benutzt wurden. Anfang der 1930er begann schließlich der zunächst geheime Aufbau der Panzertruppen, der von Bauarbeiten begleitet wurde. In diesem Prozess wurden das Gelände des Halbmondlagers aufgeschüttet und darauf die teilweise bis heute sichtbaren Kasernen und ein Kraftfahrzeugpark errichtet. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfolgte der Ausbau von Zossen-Wünsdorf zum späteren Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, das dann in der Folgezeit auch dem Oberkommando der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland bis zum endgültigen Abzug des russischen Militärs 1994 als Stützpunkt diente.
Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Halbmondlagers eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, deren Bau ab 2015 von archäologischen Grabungen durch das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologische Landesmuseum (BLDAM) sowie durch die Freie Universität Berlin begleitet wurde. Dass genau über den Überresten des Halbmondlagers für muslimische Gefangene, die zum Dschihad bewegt werden sollten, nun ein Containerlager für die Erstaufnahme Asylsuchender errichtet wird, die ihrerseits vor dschihadistischen Strömungen aus ihren Heimatländern fliehen müssen, ist mit einer bitteren Ironie belegt, insbesondere wenn man bedenkt, dass viele der aktuellen Konflikte in der kolonialistischen Weltpolitik des vorigen Jahrhunderts wurzeln.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Halbmondlager lohnt sich alleine deswegen, da es sich um eine außergewöhnlich konkrete Manifestation der damaligen imperialistischen Bestrebungen und der Islampolitik handelt. Verschiedenste Handlungsräume von der Politik über die Propaganda, über Militär und zivilen Sektor bis hin zu (pseudo-)wissenschaftlichen Interessen an den „exotischen Feinden“ bündeln und überlagern sich an diesem Ort und haben ein vergleichsweise dichtes Netz an historischen Überlieferungssträngen hinterlassen. Die Ausgrabungen im Halbmondlager ergänzen nicht nur die Quellengrundlage (etwa durch materielle Hinterlassenschaften), sondern es ist gelungen, das historische Narrativ im Raum konkret zu verorten, was angesichts der ephemeren Architektur des Halbmondlagers und der massiven Überlagerung und Zerstörung durch die spätere Bebauung durchaus ein Glücksfall ist.