[09:25:01] Georgios Chatzoudis: Kommen wir noch auf die inhaltliche Diskussion der Tagung zu sprechen: Geladen waren Geschichtsdidaktiker und Geschichtspraktiker. Am Ende hatte man den Eindruck, dass es keinen Dissens zwischen beiden Repräsentanten gab. Das wäre natürlich erfreulich, wenn dem wirklich so wäre, oder?
[09:27:47] Christoph Pallaske: Es gibt sicher keinen Dissens darüber, dass sich - wie auf der Tagung deutlich wurde - durch den digitalen Wandel sowohl bezogen auf die Praxis des Geschichtslernens als auch den Forschungsfragen der Geschichtsdidaktik einiges tun wird. Was aber wahrscheinlich weiterhin kontrovers diskutiert wird, ist die Reichweite des digitalen Wandels und grundsätzliche Auswirkungen für die Geschichtsdidaktik. Während Bettina Alavi von einer graduellen Frage gesprochen hat - ähnlich dem interkulturellen Lernen - plädieren Daniel Bernsen, Alexander König und Thomas Spahn für eine "digitale Geschichtsdidaktik", die sie an einem neu zu formulierenden Medienbegriff unter den Bedingungen der Digitalität festmachen. Marko Demantowsky hingegen hat in seinem Beitrag festgestellt, dass es keine eigenständige digitale Geschichtsdidaktik geben kann.
[09:31:53] Georgios Chatzoudis: Herr Pallaske, heißt das, dass es "digitale Geschichtsdidaktik" doch gibt?
[09:35:10] Christoph Pallaske: Der digitale Wandel markiert ein neues, wachsendes Arbeitsfeld, nicht aber eine grundsätzliche Erneuerung der Disziplin o.ä., dann wäre der Begriff irrführend. Dennoch wird es spannend sein in Zukunft zu verfolgen, wie sich historisches Denken und Lernen unter den Bedingungen des Digitalen verändert. Sehr gut finde ich das Bild von Daniel Bernsen und den Mobiltelefonen, die Schüler heute (wenn sie es nicht dürfen) unter dem Tisch und (wenn erlaubt) auf dem Tisch benutzen. Lernen im Allgemeinen und historisches Lernen im Speziellen müssen Antworten auf Fragen geben, die sich nicht eben googlen lassen. Die Informationsbeschaffung läuft einfach nebenher. In Dänemark beispielsweise schreiben Schüler Abiturklausuren und sind dabei online. So wird sich Lernen verändern - hin dazu, dass Schüler eigene Fragen entwickeln. Den grundsätzlichen Anspruch, dass historisches Lernen vor allem Antworten auf eigene Fragen und Orientierungsbedürfnisse geben soll, hat die Geschichtsdidaktik schon lange für sich verbucht. Insofern: Vielleicht kann das Digitale vor allem helfen, Ansprüche historischen Lernens besser zu verwirklichen. Hierzu wären noch weitere empirische Forschungen hilfreich.
[09:38:59] Georgios Chatzoudis: Wäre es vielleicht auch denkbar, bei einer vergleichbaren Tagung in Zukunft auch bewusst Geschichtsschüler oder Geschichtsstudenten an der Diskussion gezielt zu beteiligen?
[09:40:40] Marko Demantowsky: Ja, denkbar natürlich. Das greift ein Argument von Daniel Bernsen auf. Ich bin allerdings, was den Ertrag angeht, skeptisch, weil dadurch die Kommunikationsebenen multipliziert werden und die Verständigung nicht einfacher wird. Das Ziel der Tagung war eine Verbindung von geschichtsdidaktischer Wissenschaft und geschichtsdidaktischen Netz-Aktivisten. Dafür hätte es nichts gebracht, noch weitere Gruppen mit differenten Perspektiven einzubeziehen. Das heißt natürlich gar nicht, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende nicht wertvolle Diskussionspartner in Sachen des digitalen Wandels wären! Im Gegenteil. Sehr gut finde ich z.B., was die Körber-Stiftung auf dem Mainzer Historikertag gemacht hat - Schülerinnen und Schüler mit Wissenschaft ins Gespräch zu bringen. Ich könnte mir auch ein Format vorstellen, dass Dozierende und Studierende offen und kontrovers über die Risiken und Chancen des digitalen Wandels zusammenführt. Prima. Aber eine Tagung ist wie jedes andere Projekt: Teilnehmende und Formate müssen korrespondieren mit den konkreten Projektzielen. Wünschbar ist vieles, auf eine vernünftige Weise machbar nur Weniges.
[09:43:04] Christoph Pallaske: Die Idee, Lerner und Studierende einzuladen, ist sicher interessant und geht bezüglich der Transparenz noch einen Schritt weiter. Genauso, wie das Format der "interaktiven Netztagung" ein Experiment war, müsste man ausprobieren, ob es die Diskussion weiterführt. Und: Der digitale Wandel schreitet immer schneller voran, hat aber vor kaum einer Institution stärker Halt gemacht als vor der Schule. Deshalb wird "Geschichte Lernen digital" in den kommenden Jahren eines der großen Themen der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts bleiben, die Bedeutung möglicherweise noch zunehmen.