Die Bewältigung der Coronakrise hat auch die Frage nach der Solidarität in Europa neu aufgeworfen. Wer sollte sich nun wem gegenüber solidarisch verhalten? Die reicheren Länder gegenüber den ärmeren? Die mit den geringeren Fallzahlen gegenüber denen mit den hohen? Und was ist in diesem Zusammenhang mit jenen, die wie die Flüchtlinge im türkisch-griechischen Grenzgebiet in Lager gehalten werden? Mit wessen Solidarität können sie rechnen? Oder ist internationale bzw. innereuropäische Solidarität gar nicht das Gebot der Stunde? Erweisen sich vielmehr gerade jetzt wieder nationale Zugehörigkeiten als die bedeutenderen und griffigeren? Diese Fragen diskutieren Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis mit ihren Gästen Natascha Bagherpour Kashani und Andreas Rödder.
"Maß und Umfang von Solidarität müssen immer wieder neu ausgehandelt werden"
Zimmerer: Seit Wochen gibt es, aus verständlichen Gründen, kein anderes Thema als die Corona-Pandemie. Solidarität wird eingefordert innerhalb der Nation aber auch innerhalb Europas. Kaum gesprochen wird über die Situation in den Geflüchtetenlagern in Griechenland. Sind wir nicht auch hier zur Solidarität verpflichtet? Und wäre diese nicht auch in unserem eigenen Interesse?
Bagherpour: In jedem Fall müssen wir dort auch helfen. Wer, wenn nicht die reichen und starken Länder?
Rödder: Solidarität ist als Anspruch grundsätzlich unendlich. Das gilt auch für die Lager. Die Frage ist allerdings: wie?
Zimmerer: Eine Forderung ist, Lager aufzulösen und Geflüchtete in Europa zu verteilen.
Bagherpour: Das fängt schon mal ganz grundlegend mit besseren Lebensbedingungen an. So wie die Geflüchteten jetzt leben, können sie zum Beispiel keinen Abstand wahren. Klar ist: Europas Wirtschaft lebt von der Globalisierung. Diese hat auch den Virus hierhergebracht. Jetzt müssen wir mit den Konsequenzen leben. Zu diesen Konsequenzen gehören auch Infizierte in Flüchtlingslagern, oder etwa nicht?
Chatzoudis: Solidarität ist in Europa offenbar nicht unendlich. Wir haben eine Reihe von Beispielen aus den vergangenen Jahren, als Solidarität in Europa nicht geklappt hat.
Rödder: Ich hatte von der Norm gesprochen. Dass die Praxis anders aussieht, versteht sich. Solidarität ist aber auch keine eindeutige Größe. Maß und Umfang müssen immer wieder neu ausgehandelt werden.
Zimmerer: Wie können wir die Praxis der Norm annähern? Sie sagten, sie sei "unendlich".
Rödder: Ich würde sagen: durch kluges Abwägen und Zugewandtheit zwischen Verabsolutierung und Ignoranz.
Zimmerer: Aber wie soll dieses Abwägen aussehen, etwa am Beispiel der Geflüchtetenlager im griechischen Moria?
Bagherpour: Wenn wir dort nicht eingreifen, wird auch das wieder auf Europa zurückfallen, es wäre nur ein aufgeschobenes "Problem".