Zimmerer: Gehen dann die Lichter aus in Europa?
Richter: Nein. Sage ich mal mit prophetischer Weisheit. 😉
Goldmann: Das hängt wirklich davon ab, ob Europa es schafft, sich als relevante Kraft zur Krisenbewältigung zu positionieren. Ich sage nur "recovery fund". Er wird gerade zerredet.
Richter: Stichwort: Embedded Capitalism: Wir müssen für neue Phänomene neue Regeln finden. Das ist ein immer wiederkehrender Prozess. Und wenig spricht dafür, dass wir mit der Digitalisierung keinen Umgang finden werden.
Zimmerer: Welche neuen Phänomene?
Richter: Digitalisierung, Globalisierung, stärkere Migrationsströme. Das ist beängstigend. Und es dauert seine Zeit, bis Regierungen und überhaupt bis sich Menschen darauf einstellen.
Goldmann: Ja, Lisa Herzogs Anregungen fand ich gut, wie man Arbeit neu denken muss. Die sozialintegrative Funktion erhalten, aber die Bewertungen verändern, weniger vom Markt abhängig machen.
Zimmerer: Digitalisierung ist neu, die beiden anderen Phänomene nicht. Nur treffen Sie uns in Europa jetzt anders.
Richter: Ja, wir reden ja von Europa. Und die Globalisierung hat schon ein neues Tempo aufgenommen.
Goldmann: Die Finanzmärkte haben auch eine Reaktionsgeschwindigkeit und Macht, die man mit dem Zustand um 1900 nicht vergleichen kann.
Zimmerer: Ja, ich rede auch von Europa. Aber Globalisierung und Migrationsströme sind keine neuen Phänomene, gerade nicht in Europa.
Goldmann: Bestimmt handelt es sich um Nuancen. Letztlich ist auch Digitalisierung nur eine neue Stufe des Prozesses der Rationalisierung und Automatisierung, der die Moderne durchzieht, oder nicht?
Zimmerer: Das Tempo der Globalisierung scheint mir nicht die Ursache der Liebäugelns mit autoritären Versuchungen und populistischen Forderungen zu sein, sondern der Umstand, dass man jetzt auch die negativen Folgen zu spüren bekommt, die man die letzten 600 Jahre vor allem von Europa in die nicht-europäische Welt ausgelagert hatte.
Richter: Ja. Und der wachsende Wohlstand in manchen Ländern des globalen Südens wird die Migration noch verstärken. Es wäre erstaunlich, wenn das in Europa nicht zu krisenhaften Reaktionen führen würde. Aber ich sehe nicht, warum man die nicht konstruktiv bewältigen kann.
Goldmann: Genau. Also geht es für Europa eigentlich darum, ob es jetzt den Übergang schafft in eine neue geopolitische und wirtschaftliche Phase.
Zimmerer: Man kann sie vielleicht bewältigen. Wir wollen ja darüber reden, wie? Erster Schritt: Realität der dauerhaften Dezentrierung Europas anerkennen.
Richter: Agree. Auch da sind wir doch schon viel weiter. Womit ich nicht sagen will, dass es nicht noch viel zu tun gibt.
Goldmann: Kann die Europäische Union den "European Way of Life" bewahren (helfen)? Auch wenn um sie herum es eher in andere Richtungen geht?
Chatzoudis: Andreas Rödder meint in seinem Buch 2.0, dass die europäische Nachkriegszeit bis 1990 sowieso eher eine historische Ausnahme gewesen sei. Je größer der zeitliche Abstand dazu wird, um so mehr kann ich dem was abgewinnen.
Zimmerer: Eingefroren in den Nischen des Kalten Krieges? Aber Ausnahmen in welcher Hinsicht?
Goldmann: Ausnahme in Bezug auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Gleichheit? So zumindest sieht das auch Piketty.
Chatzoudis: Mit Ausnahmen meinte ich Befriedung und Stabilität der Gesellschaft, ein regelmäßiges Wachstum, die Tendenz zur europäischen Integration.
Zimmerer: Um auf Herrn Goldmann zurückzukommen: Was ist denn der "European Way of Life" jenseits überbordender Ressourcenverschwendung?
Goldmann: Guter Punkt, man muss ihn wohl neu denken. Ich bezog mich auf Tony Judt: Europa als das Versprechen einer offenen, relativ gleichen Gesellschaft, in der man gegen wesentliche Lebensrisiken abgesichert ist.
Zimmerer: Deshalb trifft UNS Corona so hart, weil das mit der Absicherung gegen Lebensrisiken nicht so gut klappt, auch weil das Wohlstandsversprechen als leeres Versprechen entlarvt wird.
Richter: Ha! Das ist sehr provokant! Ja, wie Tony Judt: Europa im aufklärerischen Geist (ja, ich würde die Aufklärung verteidigen!). Als das Versprechen von Gleichheit, das alle betrifft, das allen gilt: ein utopisches Projekt, für das sich der Einsatz lohnt.
Chatzoudis: Ein Liberalismus, der Brüderlichkeit als Einschränkung der Freiheit begreift, der Gleichheit nur noch als kulturelle Gleichheit versteht, ist ein auf den Markt und das Individuum reduzierter Liberalismus. Dass die sogenannten Populisten genau diese Leerstellen besetzen, ist leider ihre Stärke.
Zimmerer: Ja.
Richter: Demokratiehistorisch finde ich es interessant, dass sich das nicht auseinanderdividieren lässt. Demokratie ohne Wohlstand (mit Hunger etc.) ist keine gute Lösung. Weimar hat gezeigt, dass die Menschen daran wenig Interesse haben.
Goldmann: Schade, dass die weltweiten Demokratiebeglückungsversuche in den 1990ern das nicht beherzigt haben...
Zimmerer: Ja, die alte Maxime Adenauers, er wünsche sich ein Volk von Häuschenbesitzern, die machten keine Revolution, und er meinte damit sowohl sozialistische wie faschistische Umstürze.
Chatzoudis: Dass Demokratie ohne Wohnstand nicht funktioniert, sehe ich auch so. Die Frage ist halt, ob man das Erreichen von Wohlstand dem Markt überlässt, oder ob ein freier Markt nicht eher das Problem ist, und Wohlstand ganz anders mit ihm verbunden ist - mit einer ungerechten Verteilung von Ressourcen vor allem.
Richter: Auch hier würde ich nicht für eine Großtheorie plädieren, sondern für theoretischen Pragmatismus. Es ist meistens eine graduelle Frage.
Goldmann: Man wird als EU diese fundamentalen Probleme heute nicht lösen können. Ich vermute, es ist entscheidend, ob Europa überhaupt Schritte in eine mögliche neue Zukunft geht, von der keiner weiß, wie sie aussieht.
Zimmerer: Was müssen, was können wir tun, als Geisteswissenschaftler*innen, als Bürger*innen?
Chatzoudis: Den vorherrschenden Liberalismus um seine Mythen entkleiden.
Richter: Als Historikerin: Lesen und ins Archiv gehen. (ernst gemeint! 😊)
Goldmann: Als Geisteswissenschaftler*innen: Kritik. Vor allem fundierte Kritik. Als Jurist*innen: Den Mythos bekämpfen, dass Europa ständig das Recht breche. Als Bürger*innen: Mit anderen Reden, auch mit denen, wo es weh tut.
Chatzoudis: Letzten Punkt halte ich für zentral.
Zimmerer: Damit sind wir für heute schon wieder am Ende. Aber ein gutes Ende, ein offenes Ende. Vielen Dank, und wieder bleiben mehr Fragen offen, als wir geklärt haben, aber andere. So soll es sein, so muss es sein.
Richter: Danke für den Austausch!
Goldmann: Herzlichen Dank auch von mir!
Chatzoudis: Vielen Dank!