Die Frage, was die Maßnahmen gegen die Corona-Epidemie für demokratisch verfasste Gesellschaften bedeuten, ist im CoronaLogBuch schon mehrfach diskutiert worden, aber noch nicht mit allen. Auch kommen mit jedem Tag neue Erfahrungen, zusätzliche Aspekte und Fragen dazu. Dieses Mal haben Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen Logbuch die Auswirkungen der "Corona-Politik" auf die Demokratie mit der Historikerin Prof. Dr. Hedwig Richter und dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Matthias Goldmann debattiert. Zur Sprache kam dabei auch die Rolle, die wissenschaftliche Diskurse in Zeiten der Ungewissheit spielen.
"Wenn man einmal Freiheit der Sicherheit geopfert hat, ist der Rückweg vielleicht versperrt"
Chatzoudis: Guten Tag zusammen! Ich begrüße heute neue Gäste in unserem CoronaLogBuch – die Historikerin Prof. Dr. Hedwig Richter von der Universität der Bundeswehr in München und den Juristen Prof. Dr. Matthias Goldmann von der Goethe-Universität in Frankfurt. Herr Zimmerer und ich möchten heute gerne folgendes Thema mit Ihnen diskutieren: Gefährdet die Coronakrise die Demokratie? Falls ja, wo zeigt sich das bereits? Wo sind Gefahren für die Demokratie jetzt schon erkennbar, wo auch künftig denkbar? Oder falls nicht, warum nicht trotz starker Homogenisierungstendenzen und massiver Einschränkungen im Alltag? Erweist sich gerade die Demokratie als besonders gut geeignet, mit einer Krise wie der Coronakrise umzugehen?
Richter: Ich übernehme mal den Part "Die Demokratie ist gut für solche Krisen gerüstet".
Goldmann: Super, dann vielleicht mein Part "Warum die Krise autoritäre Tendenzen steigert".
Chatzoudis: Besser können wir es nicht treffen - zwei gegensätzliche Positionen.
Zimmerer: Ich denke, beide "Parts" schließen sich nicht aus. Wenn man Faktor Zeit berücksichtigt.
Chatzoudis: Wird sich hoffentlich gleich zeigen...
Richter: Ich denke, dass die Menschen sehr wohl unterscheiden können zwischen Autoritarismus, um die Macht unrechtmäßig zu stärken und vernünftigen (durch Expert*innen gestützten) Maßregeln. Demokratie (die liberale, soziale Variante) ermöglicht es, diese Maßnahmen umzusetzen und zugleich die Leute mit an Bord zu haben.
Goldmann: Wie verändert aber die Krise unseren demokratischen Diskurs? Viele "intermediäre Strukturen" liegen brach. Soziale Medien schaden oft dem Diskurs, da sie zur Polarisierung neigen. Und, ja, vordergründig steigen die Zustimmungsraten für Frau Merkel. Aber ob das so bleibt, ist fraglich. Ich bin skeptisch. Denn die Krise stützt letztlich eine Tendenz zum Autoritarismus und zur Kontrolle der Bevölkerung durch den Staat, die schon seit dem 11. September 2001 anhält.
Zimmerer: Inwiefern hat das mit 9/11 zu tun?
Goldmann: Seit 9/11 haben wir uns an ein Sicherheitsparadigma gewöhnt. Das hat damals nur "Randgruppen" getroffen, deshalb hat die Bevölkerung viele Maßnahmen wie verstärkte Überwachung und überhaupt die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle sowie die staatliche Datensammlung akzeptiert.
Zimmerer: Das ist wahr. Menschen wollen Sicherheit statt Freiheit?
Richter: Menschen wollen beides. Die Demokratie ist in der Lage, beides abzuwägen.
Zimmerer: Was, wenn nicht beides gleichzeitig gleichermaßen zu haben ist?
Goldmann: Oder was, wenn beides nicht gleichzeitig gemacht wird? Theorie ist das eine, die konkrete diskursive und institutionelle Praxis das andere.
Richter: Je nachdem ist einmal Sicherheit, ein andermal Freiheit wichtiger. Das ist ein Aushandlungsprozess. Und das unterscheidet schon wieder die Demokratien von Autokratien. Momentan ist für die Mehrheit offenbar Sicherheit wichtig.
Zimmerer: Wenn man einmal Freiheit der Sicherheit geopfert hat, ist der Rückweg vielleicht versperrt.
Richter: Nein, es wird nicht geopfert. Das sehe ich ganz anders. Es gibt ja auch nach wie vor die Öffentlichkeit, den offenen Raum durch die sozialen Medien, überhaupt durch die starken Medien, die nicht auf den analogen Raum angewiesen sind. Aber kurz zurück, zu dem was Herr Goldmann eben geschrieben hat. Als Historikerin möchte ich darauf hinweisen, dass schon lange vor 9/11 und während des Kalten Krieges oft noch viel stärker solche Eingriffe da waren.
Chatzoudis: Haben Sie dafür ein Beispiel?
Richter: Berufsverbote etwa.
Zimmerer: Das stimmt, aber die technischen Rahmenbedingungen haben sich verändert, der Computer erlaubt die fast totale Überwachung.
Goldmann: Auch die politischen Rahmenbedingungen. Demokratie befindet sich heute im Wettbewerb mit (grob) zwei Varianten des Autoritarismus - dem chinesischen Staatskapitalismus und dem amerikanischen Autoritarismus, bei dem eher die 1% den Staat gecaptured haben.
Zimmerer: Ja, das mag auch ein Faktor sein. Aber Überwachung ist heute leichter und weitergehender möglich.
Richter: Richtig, aber auch hier der Hinweis: Früher befand sich Demokratie auch im Wettbewerb. Und der war noch einiges krasser. Es stand immer die Sorge des Atomkriegs an. Viele Krisenszenarien erscheinen mir geschichtsvergessen. :D
Zimmerer: Das stimmt, aber es kommt auch auf die Weite der historischen Betrachtung an. Ab 1945, ab 1918, ab 1789 etc. Das verändert den Befund.
Goldmann: Das ist ein wichtiger Hinweis. Überhaupt ist die Moderne ja eigentlich eine permanente Krise. Das sollte man nicht vergessen. Das bewahrt uns aber nicht vor der Dialektik der Aufklärung. Und hier sehe ich derzeit den Mythos in Form autoritärer Tendenzen auf dem aufsteigenden Ast.
Zimmerer: Das "Ende der Geschichte" ist am Ende.
Goldmann: Absolut!