Jede große Krise hat auch ihre speziellen Begriffe, die nicht nur unverwechselbar mit der jeweiligen Krise verbunden werden und nicht nur das meinen, was sie buchstäblich wiedergeben, sondern die ein Eigenleben entwickeln und performativen Charakter annehmen. Man könnte von Epochenbegriffen sprechen. Einige Beispiele: Mit 9/11 verbindet man Begrifflichkeiten wie beispielsweise "Achse des Bösen" oder "uneingeschränkte Solidarität", mit der Finanzkrise von 2007 "too big to fail" oder "systemrelevant" und mit der Flüchtlingskrise "refugees welcome" oder "Wir schaffen das!". In der gegenwärtigen Coronakrise ist ein Begriff neu aufgekommen, von dem man noch nicht genau weiß, was er eigentlich genau meint und welche Bedeutung ihm noch zukommen wird: "social distancing". Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis haben diesen Begriff mit ihren Chat-Gästen Mahret Ifeoma Kupka und Paul Nolte diskutiert.
"Eigentlich müsste es 'physical distancing' heißen, oder?"
Chatzoudis: Heute steht das sogenannte "social distancing" auf dem Programm. Zunächst möchte ich gerne auf den Begriff des "social distancing" eingehen, ein Anglizismus mehr, der im Zuge der Coronakrise Eingang in nicht-englische Sprachen gefunden hat. Ein Begriff von nahezu performativem Charakter, der beginnt ein wirkmächtiges Eigenleben zu führen und dabei ziemlich irreführend sein kann. Denn, so meine These zu Beginn, und die ich hier in den Raum stelle: "Social distancing" meint mehr als nur räumlicher Abstand, oder?
Nolte: Ich fand erstmal paradox, dass es sich eben doch darauf bezieht, wo wir doch ganz selbstverständlich von "sozialen Medien" sprechen.
Kupka: Eigentlich müsste es auch "physical distancing" heißen, oder?
Nolte: Ja, genau, denn soziale Kontakte intensivieren sich ja im Moment häufig.
Zimmerer: Eine Frage ist ja, ob wir nicht schon seit Jahren in einem Prozess des "social distancing" sind, der Auflösung alter Solidaritäten etc.
Kupka: Vielleicht nicht so sehr Auflösung als eher Veränderung?
Nolte: Vielleicht, aber es kommen neue Solidaritäten dazu, oder alte werden reaktiviert. Das Drei-Generationen-Verhältnis war historisch kaum jemals so eng wie heute. Das ist ja das Problem mit den Opas und Omas im Zeichen von Corona.
Zimmerer: Es stimmt doch auch nur bedingt. Wer mit seiner Familie zuhause sitzt, hat einen intensivierten physischen Kontakt. Das fällt in der Debatte etwas hinten runter, finde ich.
Kupka: Absolut!
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haben Sie vielen Dank für Ihr Interesse an unserem LogBuch und Ihren aufmunternden Zuspruch. Danke auch für die zwei interessanten Verweise - es ist schon spannend, in welche Richtungen im Zusammenhang mit "social distancing" derzeit gedacht wird. Das mit der Architektur ist ein bemerkenswerter Gedanke. Mehr individueller Raumanspruch in Zeiten, in denen Wohn- und Lebensräume eher schrumpfen? Stichworte Mieten und Migration. Ein anderer Gedanke kam mir noch: Erinnern Sie sich noch an "Armlänge Abstand" im Zusammenhang mit der Kölner Silvesternacht? Ein Vorläufer der nun eingeübten Praxis "social distancing"? Möglicherweise passt dazu die Bemerkung von Mahret Kupka, die ja zum Ende des Protokolls zurecht zu bedenken gibt, dass Öffentlichkeit und Nähe inzwischen auch als etwas Bedrohliches wahrgenommen werden.
Ich würde mich freuen, weiter mit Ihnen als kommentierenden Leser rechnen zu dürfen.
Viele Grüße
Georgios Chatzoudis
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Zum Thema soziale und/oder physische Distanz möchte ich auf zwei Beiträge aufmerksam machen, die an diesem Wochenende in der F.A.Z (Niklas Maak) und im BR-Fernsehen (BR-Stammtisch, Prof. Klaus Bogenberger) zu lesen bzw. zu hören sind.
Niklas Maak geht in einem ganzseitigen Artikel auf die aktuelle Situation in der "Stadt des Ausnahmezustands" ein und berichtet von einem kürzlich erschienenen Buch der spanischen Architekturtheoretikerin Prof. Beatriz Colomina. Er nennt das Werk "X-Ray Architecture" ein "Schlüsselwerk zur aktuellen Krise und ihren möglichen Folgen für die Stadtplanung".
Der Verkehrswissenschaftler Bogenberger überraschte heute seine Stammtisch-Schwestern und Brüder mit dem Vorschlag: auf Fußwegen einen Richtungsbezug einzuführen. https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/sonntags-stammtisch/index.html (ab 34:45).
Ich bin auf die weiteren Gesprächsprotokolle sehr gespannt und wünsche weiterhin anregende Gespräche in weiterhin angenehmer Atmosphäre.