Maskenpflicht gilt in dem einen Bundesland, aber in dem anderen nicht beziehungsweise noch nicht. Diese Konstellation gab es in den vergangenen Wochen auch schon im Zusammenhang mit anderen Regelungen. Gab es eine klare Regel, trat der Staat in die Verantwortung. Wurden dagegen nur Empfehlungen ausgesprochen, oblag es den Menschen eigenverantwortlich zu entscheiden, wie sie sich verhalten - so wie beispielsweise jetzt in einigen Bundesländern, in denen das Tragen einer Maske (noch) nicht Pflicht ist. Überlässt der Staat hier fahrlässig Bürgerinnen und Bürgern die Entscheidung? Entzieht er sich gar seiner Verantwortung, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen? Und wenn denn der Staat zum Tragen von Masken verpflichtet, muss er dann nicht auch die Masken zur Verfügung stellen? Oder ist das dann wieder den Bürgerinnen und Bürgern überlassen? Fragen, die Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen Logbuch ihren Gästen Prof. Dr. Manuela Boatcă und Prof. Dr. Paul Nolte gestellt haben.
"Die Gesellschaft ist im Moment nicht darauf geeicht, uns zu hören"
Zimmerer: Guten Tag zusammen! Da wir heute mit Herrn Nolte einen "Veteranen" des CoronaLogBuchs wieder zu Gast haben, möchte ich vor unserem eigentlichen Thema zunächst folgende Frage an Sie richten: Seit unserem ersten Gespräch, welche Ihrer Einschätzungen bestätigten sich bisher, welche nicht?
Nolte: Na, sagen wir so, ich bin nicht ganz überrascht von dem Gang der Dinge. Für mich bestätigt sich unsere Kompetenz als Kulturwissenschaftler*innen.
Zimmerer: Inwiefern?
Nolte: Wir haben den weiteren Blick. In den letzten Wochen lese ich ständig „News“, die das verkünden (und von „Experten“ verifizieren lassen), was wir schon vorher wussten - angefangen von der Dimension des wirtschaftlichen Einbruchs, bis zu den gesellschaftlichen „strains“: Zunahme sozialer Ungleichheit und alle möglichen sozialen und kulturellen Folgen.
Zimmerer: Hätten die mal auf uns Historiker*innen gehört... :)
Chatzoudis: Ich habe zuletzt ein Interview mit dem Ökonomen Marcel Fratzscher vom DIW geführt. Er meinte, er vermisse Stimmen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Sind wir immer noch zu leise?
Zimmerer: Haben Sie ihn gefragt, warum er das Logbuch nicht liest?
Chatzoudis: Leider nein... :(
Boatcă: Ich würde nicht sagen, dass wir zu leise sind, sondern wir haben andere Kanäle. Ich sehe und höre viele Beiträge aus den Sozialwissenschaften, aber vielleicht auch, weil ich gezielt danach suche und in diesen Netzwerken bin, in denen Kolleg*innen ihre Beiträge weiterleiten.
Chatzoudis: Das würde für die ominöse "Blase" sprechen? Sozial- und Geisteswissenschaften arbeiten selbstreferentiell und unterhalb des Radars?
Boatcă: Jede Disziplin hat ihre eigene "Blase". Die Frage ist doch, wer als Experte gilt. Soziolog*innen haben sehr lange von steigender Ungleichheit auf weltweiter Ebene gewarnt, aber zum Thema wurde es erst, als Piketty darüber geschrieben hat. Auch in der jetzigen Krise werden Ökonom*innen eher als Fachleute angesehen. Das kann auch daran liegen, dass die Soziologie zumindest noch nie mit Prognosen geglänzt hat. Für Analysen gilt das aber nicht.
Nolte: Ich habe eher das Gefühl, das Problem liegt beim Empfänger. Die Gesellschaft ist im Moment nicht darauf geeicht, uns zu hören.
Zimmerer: Aber spannend, dass mit gewisser Verzögerung "unsere" Themen kommen.
Nolte: Ja, aber es käme doch auch auf den Sprung in die „Mainstream-Medien“ an. Wenn ich mal ganz selbstbewusst sein darf, dann hätte ich mir schon vorstellen können, dass mein FR-Interview oder knackige Begriffe, die ich benutzt habe, mal aufgegriffen werden - wie die Warnung vor einem „solidarischen Konformismus“. Vielleicht fehlt uns doch ein Jürgen Habermas…
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Das erinnert mich an die Überlegungen über "Öffentlichkeit und Erfahrung" (Oskar Negt/Alexander Kluge, 1972), wonach Massenmedien eine Art "mittelbare Erfahrung" aggregieren, während wir im Alltag direkt "unmittelbare Erfahrungen" machen. Die Kollision beider Wahrnehmungsarten erleben viele Menschen häufig, aber nun fällt sie auf, weil beide Handlungsrelevanz beanspruchen. Maske oder nicht? Die erste Orientierung ist, ob auf der Straße oder im Supermarkt alle eine tragen oder niemand. Dringliche Empfehlungen der Bundesregierung werden nicht massenhaft handlungsleitend, wenn im Alltag überall nur Menschen ohne Masken zu sehen sind.
Ich habe das Problem des Widerspruchs von mittelbarer und unmittelbarer Erfahrung anders erlebt: Als Wissenschaftler bin ich es gewohnt, "mittelbare Erfahrung" auszuwerten und kritisch zu bewerten, für mich als Historiker ist Quellenkritik gewissermaßen Alltag. Als ich Anfang März, in der Woche nach Karneval, nach NRW gereist bin, musste ich beurteilen, wie riskant das ist. Mir war klar: Es besteht ein Risiko, mich zu infizieren und daraufhin andere Leute anzustecken. Ich kenne mehrere Menschen, die Pflege unterrichten. Wenn ich die anstecken würde, könnten sie PflegeschülerInnen anstecken, die dann Pflegeheime infizieren würden. Ich wusste, dass ich das nicht mehr kontrollieren könnte, wenn ich einmal infiziert wäre.
Heute bin ich froh, damals nicht mit dem Zug gefahren zu sein, sondern mit dem Auto. Ebenso habe ich Kontakt zu Menschen eher vermieden. Manche Menschen in meiner Umgebung konnten das nicht so konsequent tun wie ich, weil ich ohnehin meist in der Einsamkeit meiner Studierstube arbeite. Ich kenne mehrere Menschen, die sich fragen, ob ihre langwierige Atemwegserkrankung bis hin zur Lungenentzündung nun Covid-19 ist oder nicht.
Wer aber alltäglich praktisch und unmittelbar erfährt, dass sich überall Menschen begegnen, der erhält davon ein starkes Signal, das Normalität suggeriert und die massenmedial präsentierten Risiken dementiert. Seit Karneval wussten alle in einem abstrakten Sinn, dass das Virus in Deutschland ist. In dem konkreten Sinn, wie der Alltag sich dadurch verändern muss, ist die Information aber bei vielen Menschen nur langsam angekommen.
Die Alltagserfahrung von "Normalität" gewinnt im Alltagsbewusstsein gegen die mittelbare Erfahrung von VirologInnen, die im Rundfunk die Gefährlichkeit von Covid-19 erläutern.
Das Bemühen der Politik, soweit wie möglich Normalität zu inszenieren, ist daher fatal. Ins Alltagsbewusstsein dringt die Unnormalität der Situation nämlich erst, wenn gezielt Unnormalität inszeniert und dann unmittelbar erlebt wird. Das könnte der Hauptnutzen einer Maskenpflicht sein: Man sieht in den Gesichtern um sich herum, dass etwas nicht normal ist.