Aktuelle Krisenlagen reizen immer zu historischer Analogiebildung. Wiederholt sich die Geschichte gerade? Der Blick in die Geschichtsbücher, um ähnliche Situationen mit der Gegenwart abzugleichen, ist interessant, kann lehrreich sein, aber vielleicht auch deutlich machen, wie anders die Gegebenheiten doch sind. Zurzeit erleben wir im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie einen wirtschaftlichen Einbruch historischen Ausmaßes. Der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 liegt gleich auf der Hand - die politischen Folgen sind allen bekannt und fordern zu der Frage heraus, ob die Demokratie wieder an ihre Grenzen stößt. Ist eine Wiederholung von Verhältnissen wie 1933 heute denkbar? Wie hängen überhaupt Wohlstand, wirtschaftlicher Niedergang und Demokratie zusammen? Diese Fragen haben Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen CoronaLogBuch ihren Gästen Prof. Dr. Manuela Boatcă, Soziologin der Universität Freiburg, und dem Historiker Prof. Dr. Michael Wildt von der Humboldt-Universität Berlin gestellt.
"Ich bin sicher, es kommt kein neues 1933"
Zimmerer: Coronakrise und Demokratie. Bedrohen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie die politischen Grundlagen der westlichen Demokratien? Schon bei der Geflüchtetenkrise 2015 wurde davon gesprochen, dass dies unsere Gesellschaft nicht aushalte. Und immer wieder wurde dies betont, wann immer Geflüchtete zum Thema wurden. Wenn nun aber Adam Tooze recht hat, laufen wir auf eine gigantische Wirtschaftskrise zu. Wird Corona unser 1929?
Wildt: Davon versteht Adam Tooze mehr als ich, aber ich befürchte auch, dass es zu einer schweren Wirtschaftskrise kommt.
Zimmerer: Mir ging es um die Folgen dieser Wirtschaftskrise für das Politische. Stichwort: Berlin ist (nicht) Weimar.
Boatcă: Es kommt dabei darauf an, wer "wir" sind. Ich glaube, diese Krise macht in erster Linie deutlich, wie global ihre Auswirkungen sein können. Wenn Konsequenzen, ob gesundheitlich oder wirtschaftlich, nur im nationalen Rahmen gedacht werden, dann wird diese in mehr als nur einer Hinsicht zu einer schweren Krise werden, ja.
Zimmerer: Bleiben wir mal zunächst bei Deutschland.
Chatzoudis: Ich denke, wirtschaftliche Miseren gefährden die Demokratie. Das hatten wir doch schon anlässlich der Flüchtlingskrise. Die Menschen fliehen aus untragbaren Verhältnissen dorthin, wo sie Wohlstand vermuten. Der Zuzug wiederum setzt die Demokratien hier unter Druck. Die gesellschaftlichen Spannungen steigen - egal, ob die Wohlstandsverluste real oder imaginiert sind. Soll heißen: Wenn eine prosperierende Wirtschaft und die daraus resultierenden Wohlstandgewinne die Grundlage für Demokratien sind, müsste zumindest mit mehr "Populismus" zu rechnen sein.
Boatcă: Das setzt voraus, dass wir Demokratie mit einer funktionierenden Marktwirtschaft fast gleichsetzen, und nicht alleine als politisches Prinzip sehen.
Wildt: Inwieweit 1929 ein Modell für 2020/21 ist, ist schwierig zu sagen. Ich bin skeptisch, da die sozialen und ökonomischen Verhältnisse heute anders liegen. Aber es wird - anders als 1929 - zu drastischen Konfrontationen und Verwerfungen im Nord-Süd-Verhältnis kommen.
Zimmerer: Sie meinen das Nord-Süd-Verhältnis auf globaler Ebene?
Wildt: Ja, ich meine global Nord-Süd, da die Länder der südlichen Hemisphäre viel schwerer von Corona getroffen und geschädigt sein werden als der Norden.