Als die ersten Meldungen vom Ausbruch der Corona-Epidemie in China nach Europa und Amerika kamen, wähnte man sich noch auf der sicheren Seite und kritisierte die Maßnahmen der chinesischen Regierung zur Eindämmung des Virus scharf. Brutal bis mittelalterlich gehe die kommunistische Administration gegen die eigene Bevölkerung vor, wie beispielsweise in deutschen Zeitungen zu lesen war. Heute weiß man, dass die Strategie Pekings zur Eindämmung des Virus erfolgreich waren - mit Blick auf die Zahl der Infizierten und der Todesfälle deutlich erfolgreicher als die Strategie im Westen. Durch gegenseitige Schuldvorwürfe, insbesondere in Bezug auf den Ausbruch des Virus und die entsprechende Informationspolitik, hat sich der bestehende Gegensatz zwischen dem Westen und China, insbesondere zwischen den USA und China, weiter vertieft. Woran liegt das? Welche Rolle spielen dabei Selbst- und Fremdzuschreibungen? Diese Fragen haben Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis in ihrem gemeinsamen Logbuch mit ihren neuen Gästen diskutiert: mit der Historikern Prof. Dr. Gabriele Metzler von der Humboldt-Universität zu Berlin und mit dem Sinologen Prof. Dr. Felix Wemheuer von der Universität zu Köln.
"Das vertraute internationale Gefüge ist in Auflösung begriffen"
Zimmerer: Guten Tag zusammen, unser Thema lautet heute: Corona global: China gegen den Westen, der Westen gegen China? Was ändert sich am internationalen Gefüge? Und welche Rolle spielen dabei Selbst- und Fremdzuschreibungen?
Metzler: Wer ist "der Westen"? Ich finde es mittlerweile schwierig, in dieser Kategorie zu denken.
Zimmerer: Gute Frage: Wie würden Sie denn die internationale Gemengelage beschreiben Wer steht gegen wen? Und mit wem?
Chatzoudis: Bis jetzt war das immer recht klar. Mit "der Westen" ist das transatlantische Gefüge gemeint, oder?
Zimmerer: Eigentlich nur bis 1989/91.
Chatzoudis: Bin mir nicht sicher. Vielleicht sogar seit Fukuyama noch mehr.
Metzler: Das vertraute internationale Gefüge ist in Auflösung begriffen. Es war auch immer mehr als nur "transatlantisch" geprägt - da sind wir schon bei der Frage der Selbstzuschreibungen.
Wemheuer: Eine einfache Gegenüberstellung zwischen dem Westen und China funktioniert in diesem Zusammenhang nicht. Es zeigen sich eher Unterschiede zwischen den Staaten in Asien, die Erfahrungen mit SARS hatten, Kapitalismus mit Sozialstaat in Europa und dem radikalen neoliberalen Modell eines Gesundheitssystems in den USA.
Zimmerer: Könnten Sie hier die Reaktionen etwas erläutern? Sehr spannend.
Wemheuer: China vergleicht sich nicht mit den "kleinen Staaten" in Europa, sondern in erster Linie mit der Weltmacht USA, zu der bis 2049 aufgeschlossen werden soll. Die aktuelle Situation in den USA ist natürlich das "gefundene Fressen" für die chinesische Propaganda.
Zimmerer: Sieht China Europa als einzelne Staaten oder die EU als Akteur?
Wemheuer: In den chinesischen Medien wird über dem Umgang mit Corona in Deutschland auch positiv berichtet. Die USA dient als Negativbeispiel.
Zimmerer: Ich bezog mich auf das Vergleichen. Nimmt China die EU als Akteur ernst oder nur als Summe kleiner Staaten? Und wie sieht die Welt eigentlich aus, von China aus betrachtet und unter dem Blickwinkel der Coronakrise?
Metzler: Ist die EU als Akteur denn wirklich in Erscheinung getreten während der akuten Phase der Pandemie? Mir scheint sie sich eher jetzt für die "Aufräumarbeiten" wieder zu aktivieren.
Zimmerer: Das stimmt. Die EU zeigte sich in erschreckender Form, zu Beginn der Krise.
Wemheuer: Interessanterweise wurde Chinas Strategie gegen Corona (Lockdown und Maskenpflicht) erst als "autoritär" und "mittelalterlich" wahrgenommen und dann in westlichen Staaten in abgeschwächter Weise übernommen. In Asien haben Demokratien wie Südkorea und Taiwan im Kampf gegen Corona gut abgeschnitten und auch der Einparteienstaat Vietnam. Mit der Gegenüberstellung Westen/Asien und demokratisch/autoritär kommt man nicht weiter, um das unterschiedliche Ausmaß der Krise zu erklären.
Zimmerer: Mir geht es weniger um die Erklärung der Krise, sondern um die Wahrnehmung der Krise.