Bewegungsradius maximal 15 Kilometer, privater Kontakt zu nur einer Person außerhalb des eigenen Haushalts, Schulen, Kindergärten und zahlreiche Geschäfte bleiben geschlossen - das sind die gegenwärtigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Zeiten der Coronakrise, die allgemein als "Lockdown" bezeichnet und als historisch einzigartig empfunden werden. Eine Art "Lockdown" gab es allerdings schon einmal in der Geschichte der Bundesrepublik, bei dem die Regierung in die persönliche Freiheit von Bürgerinnen und Bürger bis dahin beispiellos eingriff: 1973 im Zuge der Ölkrise. Das Autofahren auf Autobahnen wurde untersagt, eine Tempobeschränkung verhängt. Wie wurden diese Beschränkugen damals empfunden und debattiert? Welche weitreichenderen Folgen hatten sie für die Bundesrepublik? Wir haben diese und anschließende Fragen dem Historiker Prof. Dr. Frank Uekötter von der Universität Birmingham gestellt.
"Wenn es um etwas Großes geht, sind Schlagworte meist nicht fern"
L.I.S.A.: Herr Professor Uekötter, Sie forschen unter anderem zur Umwelt- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Geschichte der Bundesrepublik. Ein prägnantes Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, das man sowohl umwelt- als auch wissenschaftshistorisch untersuchen kann, ist die Ölkrise von 1973. Die damalige Bundesregierung unter der Kanzlerschaft Willy Brandts brachte im November 1973 das Energiesicherungsgesetz durch, das unter anderem zu einer Art Lockdown ermächtigte. Autofahren am Sonntag wurde verboten, ein Tempolimit für sechs Monate ausgesprochen. Heute leben wir aus ganz anderen Gründen in einem von der Bundesregierung verhängten sogenannten Lockdown. Bevor wir zu einigen Einzelheiten kommen: Ist der Begriff "Lockdown" aus Ihrer Perspektive der richtige, um Eingriffe der Regierung in das gesellschaftliche Leben zu bezeichnen?
Prof. Uekötter: An sich sind staatliche Eingriffe ins gesellschaftliche Leben völlig normal, sonst könnten moderne Gesellschaften gar nicht funktionieren. Und wenn es um etwas Großes wie die Freiheit geht, sind Schlagworte meist nicht fern. Es ist ganz interessant, dass sich dafür der Begriff „Lockdown“ eingebürgert hat. Der Anglizismus spiegelt nicht nur eine internationale Angleichung der politischen Sprache, sondern auch ein verbreitetes Gefühl, dass es um etwas Neuartiges geht. Mit dem historisch gewachsenen Vokabular kommt man nicht weit. Polizeistaat, Überwachungsstaat – das passt nicht so richtig, auch weil sich die Exekutive bislang hütet, gewisse rote Linien zu überschreiten. Eine Studentin aus Taiwan erzählte mir, dass in ihrer Heimat gleich die Polizei anrückt, wenn jemand in Quarantäne sitzt und mal kurz vor die Tür tritt. Wenn Sie das in Deutschland versuchen, sind gleich die Gespenster des 20. Jahrhunderts wach, wahlweise als NS-Blockwart oder als Stasi.