Die deutsche Literatur hat wieder einmal ein veritables event, einen Skandal vielleicht. Dies wird von der Literaturkritikerin der Zeit, Iris Radisch, nicht ohne Wohlgefallen zur Kenntnis genommen: „Die deutsche Literaturkritik, die in der öffentlichen Wahrnehmung keine große Rolle mehr spielt, hat plötzlich einen Skandal. Und zwar einen würdigeren als den letzten, der sich in der Debatte darüber erschöpfte, ob eine Siebzehnjährige zu viele Zeilen aus dem Internetblog eines unbekannten Berliner Diskothekenbesuchers abgeschrieben habe oder nicht“ (Die Zeit, 9/2012). Obwohl sie Georg Diez, dem Kritiker des Romans Imperium von Christian Kracht in diplomatischer Zurückhaltung „hermeneutische Fehler“ unterstellt und auch noch in dem zentralen Punkt, ob der Roman „rassistisch“ sei, Diez kritisiert, rechtfertigt sie dennoch dessen Kritik. Weshalb eigentlich, wenn diese Kritik hermeneutisch „fehlerhaft“ und in ihren Vorwürfen ungerechtfertigt sei? Ich möchte demgegenüber zeigen, dass die Kritik von Diez „fehlerhaft“ ist, weil sie Geist und Ästhetik des Krachtschen Romans verfehlt, geradezu auf den Kopf stellt und darüber hinaus Literaturkritik zu einer politischen Zensurbehörde macht.
"Literarischer Diskurs mit anderen Mitteln"
Die Diskussion um den Roman von Kracht wäre eher zweitrangig, würde der Kritiker Diez nicht mit schwerstem Geschütz auffahren: Kracht bewege sich „sehr bewusst außerhalb des demokratischen Diskurses“. Ich behaupte nicht – wie dies von manchen der zahlreichen blogs unterstellt wird - , dass sich Literatur a priori außerhalb des demokratischen Diskurses bewege, sondern vielmehr, dass der literarische Diskurs mit anderen Mitteln analysiert werden muß, als der politische: Literatur arbeitet weitgehend mit einer präsentativen, nicht mit einer diskursiven Symbolik. Ignoriert Kritik diese ästhetische Autonomie der Literatur, begibt sie sich in die Gefahr, selbst undemokratisch zu argumentieren, nämlich die Legitimität des literarischen Diskurses als eines eigenständigen Diskurses, generell die Legitimität von Kunst zu bestreiten.
"Außerhalb des Terrains einer rationalen literarischen Diskurses"
Georg Diez’ Rezension des Romans Imperium zerfällt in drei Teile: 1. Eine eher poetisch raunende als analytische Annäherung an den Text - im Wesentlichen eine Kurzbesprechung seiner früheren Bücher. 2. Eine Besprechung des eigentlichen Textes des Romans und 3. Der Versuch einer Bestätigung seiner Interpretation durch Verweise auf den Text Five Years (der als Buch herausgegebene e-mail-Wechsel zwischen Christian Kracht und David Woodward). „Diese E-Mails zeigen die dunkle Seite des Werkes, sie führen direkt ins Denken und Schreiben von Christian Kracht und sind von dem Roman nicht zu trennen“ (Der Spiegel 7/2012, S.102). Dieser dritte Teil ist, methodisch gesehen (durch den Verweis auf externe Textquellen) problematisch: es lassen sich im Werk eines Schriftstellers fast immer Passagen oder Texte finden, die man kritisch gegen ihn wenden kann. Die causa Heidegger mag als Beleg dafür dienen. Heideggers Anbiederungen an den Nationalsozialismus diskreditieren nicht in toto seine Philosophie.
Zunächst stellt Diez den Roman und seinen Protagonisten kurz vor, scheinbar positiv: „ein ferner seltsamer Klang, der den Leser mit den ersten Sätzen ergreift“ (S.100) – um dies jedoch umgehend zu relativieren; „Was will Christian Kracht mit dieser kruden Geschichte erzählen?“ Dasselbe Vorgehen wendet Diez auf die früheren Romane an: „Feuerland“ (1995) ist ein „Meilenstein der bundesrepublikanischen Literatur“, aber „grundiert mit einem nihilistischen Unterton“. „1979“ besitzt zwar „eine fast seherische Qualität der Prosa“, andererseits eine „lässige Menschenverachtung“. Schneidend wird die Kritik erst bei „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008). Es ist eine Reise „ans Ende des Ichs“, aber:
Mehr und mehr aber sind Krachts Helden von Auslöschungssucht Getriebene, die sich totalitären Systemen unterwerfen oder selbst menschenvernichtende Utopien schaffen. Krachts Koordinaten waren immer Vernichtung und Erlösung. Er platzierte sich damit bewusst außerhalb des demokratischen Diskurses (S.101).
Hier bewegt sich Diez außerhalb des Terrains einer rationalen literarischen Diskurses. Derlei von Diez geschilderte Topoi sind nicht gerade selten in der neueren Kunst. „Vernichtung und Erlösung“ sind Themen, die – angefangen von der griechischen Tragödie – Kunst schon immer bewegt haben. Was würde Diez wohl zu „Medea“ oder „Richard III“ – um nur zwei einschlägige Beispiele zu nennen – sagen. Entscheidend ist, wenn schon moralische oder „demokratische“ Kriterien herangezogen werden, aus welcher Perspektive derartige Themen geschildert werden, wobei diese Perspektive keineswegs immer expressis verbis formuliert werden muss. Kein einigermaßen intelligenter Kritiker käme auf die Idee, den monströsen Ich-Erzähler in Brett Easton Ellis’ „American Psycho“ mit dem Autor zu identifizieren, ebensowenig den noch monströseren Ich-Erzähler in „Die Wohlgesinnten“ mit dem Autor Jonathan Littell. Ein Roman ist kein Psychogramm des Erzählers. Literatur arbeitet mit Bildern und Chiffren, die es zu entschlüsseln gilt. Dieser Mühe muß sich ein Kritiker unterziehen, statt mit einem behaviouristischen Reiz-Reaktionsschema einem Text gegenüberzutreten. Grenzziehungen wie sie Diez vornimmt, laufen auf letztlich auf ein Literaturverbot hinaus: wer sich mit den – aus seiner Sicht - falschen Themen befasst, bewegt sich außerhalb des „demokratischen Diskurses“. Auf diese Weise gelangt Diez zur Behauptung einer „unangennehme(n), dunkle(n) Melodie“, die gleichsam die Hintergrundsmusik zu Krachts Roman bilde (S.101), eine „Methode Kracht“, die allerdings „noch nicht zu fassen ist“.
Diese Ausgrenzungsversuche qua Themenzensur nehmen im zweiten Teil der Diezschen Rezension geradezu groteske Züge an: Kracht hat seine kritisch-distanzierende Perspektive nämlich mitgeliefert, Kommentare, die dem Text gelegentlich etwas Didaktisches, fast Moralisierendes verleiht. Gerade dieses Didaktische, letztlich doch um political correctness wäre - konträr zu Diez – ein Aspekt, den man an Krachts Roman kritisieren könnte. Derartige Kommentare Krachts werden von Diez teils ignoriert, teils aus dem Zusammenhang gerissen zitiert. Es ist tatsächlich so, wie Krachts Verleger betont: der Roman beschreibt das „exakte Gegenteil“ von dem, was Diez ihm unterstellt (Der Spiegel 8/2012, S.127). Warum Diez dies nicht bemerkt, bleibt sein Geheimnis. So fällt die Kritik auf Diez zurück: Die Rezension selbst erhält so eine „unangenehme dunkle Melodie“: die Echo der Diezschen Prämissen und der daraus resultierenden Entstellung des Krachtschen Textes. Da, wie erwähnt, die „Methode Kracht“ nicht recht zu fassen ist, benötigt Diez denn auch den dritten Teil seiner Rezension, in dem er dann eine Reihe von in der Tat problematischen Äußerungen von Kracht jenseits des zu besprechenden Romans heranzieht.
Ich möchte der Diskussion des zweiten Teils der Diezschen Rezension eine kurze Interpretation des Krachtschen Textes aus meiner Sicht voranstellen.. Krachts Roman heißt „Imperium“, weil dies nicht nur ein wohltönender Titel, sondern tatsächlich der Gegenstand seines Buches ist. Kracht präsentiert drei politische Imperien und ein persönliches Imperium. Bei den politischen Imperien handelt es sich um das wilhelminische Reich, die Hitler-Diktatur, das Dritte Reich, und schließlich am Ende, nur kurz, aber nicht unsympathisch skizziert, das anglo-amerikanische Reich. Das persönliche Reich, vom Protagonisten „Kabakon“ genannt, ist eine winzige Kokospalmen-Insel in Deutsch-Neupommern, in der Blanche-Bucht, unweit des wilhelminischen Provinzstädtchen Herbertshöhe gelegen. Der Protagonist des Romans, August Engelhardt (es gab ihn wirklich), Freigeist, Vegetarier und Nudist, will „fernab der siechen Maschinerie einer sich immer schneller beschleunigenden, sinnentleerten Gesellschaft (Imperium, S.116) einen eignen Kosmos aufbauen, in dem er frei und sinnvollerfüllt leben kann. Er möchte einer „von innen heraus verfaulenden Gesellschaft, die lediglich damit beschäftigt ist, sinnlose Dinge anzuhäufen, Tiere zu schlachten und des Menschen Seele zu zerstören, adieu (zu) sagen“ (S.92).
Abgesehen davon, dass sich manche unserer heutigen Zeitgenossen mit derartigen Ideen identifizieren könnten, ohne sogleich als „totalitär“ oder gar „menschenverachtend“ angesehen zu werden, hat Kracht eine Stimmung skizziert, die im wilhelmischen Vorkriegsdeutschland verbreitet war. Man lese hierzu nur etwa Franz Marcs Briefe. Ebenso verbreitet waren die deutschen Großmachtsphantasien, auf die der Erzähler verweist. Insofern ist Engelhardts Kritik am „Materialismus“ seiner Zeit (ein beliebter Topos der damaligen ideellen Deutschnationalisten, gewandt gegen den angeblichen Materialismus etwa der Angelsachsen oder Franzosen) ein getreuer Spiegel seiner Zeit. Dies nun ist - auch im weiteren Verlauf des Romans - eine der wichtigsten Pointen der Geschichte: bis hinein in den Antisemitismus des Dritten Reichs ist Engelhardt eine Reflexion der Zeitgeschichte. Doch dies wird erst später deutlich. Zunächst ist der Freigeist Engelhardt überzeugter Anti-Antisemit. In einer Kontroverse mit einem zugereisten Jünger seines Kokosimperiums (für den der Jude ein „ungewaschener, levantinischer Sendbote des Undeutschen“ ist) heißt es:
Engelhardt teilte nicht jene aufkommende Mode der Verteufelung des Semitischen, die der fürchterliche Richard Wagner mit seinen Schriften und seiner schwülstig-komischen Musik wenn nicht initiiert, dann aber aller orten salonfähig gemacht hatte. Unser Freund liebte die Musik von Satie und Debussy und Mendelsohn-Bartholdy und Meyerbeer (S.122).
Wie glaubt nun Engelhardt der Sinnentleerung der Gesellschaft zu entfliehen? Engelhardt kommt auf die groteske Idee, die Sinnleere mit der Kokosnuß, der cocos nucifera, zu füllen. Er macht die Kokosnuß zu seiner Religion: er wird „Kokovore“. Die Kokosnuß wird zum Inbegriff des Wahren, Guten, Schönen, sie ist „das pflanzliche Abbild Gottes“ (S.40), die Inkarnation des Absoluten, des Göttlichen. Wer die Kokosnuß isst, wird selbst gottgleich, wie Engelhardt in einem umwerfend komischen Gespräch mit einem Scharlatan und Betrüger namens Govindarajan messerscharf folgert.
Damit ist allerdings auch sein Schicksal besiegelt. Dauerhaft einseitige Ernährung und weitgehende Einsamkeit (mit den eingeborenen Bewohner hat er –mit einer Ausnahme - nur wenig Kontakt, gelegentlich anreisende Jünger erweisen sich als problematisch und reisen bald wieder ab, einen von ihnen tötet er als Vergeltung für die Vergewaltigung eines Eingeborenen) führen in den körperlichen und seelischen Ruin:
Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob seine Diät oder aber seine zunehmende Einsamkeit als Ursache für die sich langsam anbahnende Seelenzerstörung anzusehen war, zumindest aber potenzierte der ausschließliche Verzehr von Kokosnuß eine bei ihm schon immer vorhandene Irritabiliität, eine Unruhe angesichts bestimmter, vermeintlich unveränderbarer, ihn vexierender äußerer Umstände (S.136).
Engelhardt erkrankt an Lepra, beginnt erst seine Fingernägel, später seine Daumen zu essen, kurz er wird verrückt, paranoid. (S.191). Erst jetzt (mittlerweile befinden wir uns in der Zeit des Dritten Reichs) wird Engelhardt Antisemit. Sein Antisemitiusmus ist nicht direkter Ausdruck seiner geistigen Umnachtung und seines Verfolgungswahns (obwohl auch dieser in diesen Zusammenhang gehört) – das wäre Kracht zu einfach. Es handelt sich eher um einen ubiquitären Projektionsmechanismus, um die Projektion eigenen Scheiterns auf die Juden. Zugleich ist sein Antisemitismus wiederum Spiegel seiner Zeit:
Ja, so war Engelhardt unversehens zum Antisemiten geworden, wie die meisten seiner Zeitgenossen, wie alle Mitglieder seiner Rasse war er früher oder später dazu gekommen, in der Existenz der Juden eine probate Ursache für jegliches erlittenes Unbill zu sehen… und dass die ganze Misere des Scheiterns seiner begnadeten Utopie denjenigen anzukreiden sei, die die Zügel in ihren raffgierigen, vom Mammon bis zur Unkenntlichkeit verkrümmten Händen hielten.
Dies ist kein Antisemitismus, sondern dessen Entlarvung.
Ich möchte nunmehr auf den zweiten Teil der Diezschen Rezension, auf die eigentliche Besprechung des Romans eingehen. Interessanterweise ist dieser Teil der Kürzeste, so dass der unangenehme Eindruck entsteht, es sei Diez mehr um eine Generalabrechnung mit Kracht, eine Entlarvung gegangen, als um eine Kritik des Romans. Dies wird von Diez auch mehr oder weniger konzediert, wenn er davon spricht, dass es Kracht gelungen sei „den Kern seines Schreibens und Denkens zu kaschieren“. Diez öffnet uns also die Augen für den wahren Kracht.
Diez beginnt mit einer Parallele, die Kracht zwischen Engelhardt und Hitler zieht: beide seien Romantiker, Vegetarier und „verhinderte Künstler“, wobei Diez an dieser Stelle Hakenkreuz und Holocaust vermisst (S.101). Hätte Diez die ganze Geschichte von Imperium im Blick, müsste er hinzufügen, dass beide „Romantiker“ im antisemitschen Verfolgungswahn landen, Damit beantwortet Kracht auch die Frage von Diez, was nämlich Romantik und Romantiker für ihn bedeuten. Daß Kracht in diesem Zusammenhang außerdem schreibt, dass der Romantiker Hitler besser bei seiner Staffelei geblieben wäre, erscheint Diez in diesem Zusammenhang nicht erwähnenswert. Sechzig Seiten weiter wird Kracht deutlicher. Über die Münchner Feldherrenhallte schreibt er:
Nur ein paar Jährchen noch, dann wird endlich auch ihre Zeit gekommen sein, eine tragende Rolle im großen Finsternistheater zu spielen. Mit dem nordischen Sonnenkreuze eindrücklich beflaggt, wird alsdann ein kleiner Vegetarier, eine absurde kleine schwarze Zahnbürste unter der Nase, die drei vier Stufen zur Bühne …ach warten wir doch einfach ab, bis sie in äolischem Moll düster anhebt, die Todessymphonie der Deutschen. Komödiantisch wäre es wohl anzusehen, wenn da nicht unvorstellbare Grausamkeit folgen würde: Gebeine, Excreta, Rauch (S.79).
Mit einem kleinen Trick verändert Diez den Sinn dieser Passage. Diez zitiert nur den letzten Satz, der dann natürlich so klingt, als wäre der Faschismus und der Holocaust „komödiantisch“ – nicht der Holocaust aber ist komödiantisch, sondern Hitler. Diezs Interpretation ist unlauter, vorsichtig formuliert. Geradzu unsinnig erscheint es dann, wenn Diez über die drei letzten Worte dieser Passage schreibt: „Kracht lässt diese drei Worte fallen wie die schönsten bösesten Edelsteine, die er erfinden konnte. Aber was will er mit dieser Provokation?“ Die Provokation hat Diez selbst kreiert.
Die wichtigste Passagen des Romans zu diesem Thema hat Diez schlicht weggelassen. Sie würden nicht in sein Konzept passen, ist aber für den Roman zentral. Fast analog zu Serenus Zeitbloom, dem Erzähler in Thomas Manns Doktor Faustus – übrigens auch ein „Romantiker“ - entwickelt Krachts Erzähler einen zunehmend kritischen Blick auf die Zeitläufte. Hahl, der gerissen-butale Gouverneur von Deutsch-Neupommern schließt sich dem Widerstand gegen Hitler an, „der als Sonnenkreuzler des Deutschen Volkes zur viehischen Unerträglichkeit wird“ (S.237). Und in der einzigen Passage, in der der Erzähler des Romans von sich selbst spricht, schreibt er über seine Großeltern, die
auf der Hamburger Moorweide schnellen Schritts weitergehen, so, als hätten sie überhaupt nichts gesehen, wie dort mit Koffern beladene Männer, Frauen und Kinder am Dammtorbahnhof in Züge verfrachtet und ostwärts verschickt werden, hinaus an die Ränder des Imperiums, als seien sie jetzt schon Schatten, jetzt schon aschener Rauch (S.231).
An diesem Punkt ist also die Romantik angekommen. Wer derartige Passagen ignoriert, verfälscht den Roman und die Romansperspektive. Diez – der ja als Entlarver des Romans angetreten ist - muß sich auch eine persönliche Frage gefallen lassen. Geht es in der selektiven Lektüre Diez’ von Krachts inverser Robinsonade vielleicht noch um etwas anderes, was ebenfalls schwer zu fassen ist?
Ich komme zum dritten und letzten Teil der Diezschen Rezension. Ich gebe zu, dass ich nach den Erfahrungen der beiden ersten Teile eine gewisse Skepsis gegenüber der Darstellung von Diez habe. Trotzdem kann ich mich des Eindruck nicht erwehren, dass Kracht – persönlich und in seiner e-mail-Kommikation – eng mit einem Menschen (mit David Woodward) verbunden war, den man vermutlich als politischen Spinner bezeichnen muß, einemSpinner mit Phantasien über die Vorzüge der arischen Rasse und einem Faible für den Ku-Klux-Klan. Das ist abstoßend, aber noch kein zwingender Beweis, dass Kracht diese Meinungen 1:1 teilt. Gelegentlich stellt man fest, dass man Freunde hat, deren politische Überzeugungen man auf keinen Fall teilen möchte, von denen man sich sogar distanzieren muß. Hat Diez überprüft, wieweit beziehungsweise wie eng Kracht tatsächlich mit Woodward „befreundet“ war, wie weit Woodward möglicherweise für ihn ein Studienobjekt für die Species rechtsradikaler Zeitgenossen, für die Faszination des „Anderen“ war. Immerhin verdanken wir Diez einen Hinweis, der möglicherweise Licht auf diesen Zusammenhang wirft. Als Woodward in einer von Kracht herausgegebenen Zeitschrift einen Artikel über den Holocaust-Leugner Ernst Zundel schreiben will, lehnt Kracht ab: die Zeitschrift „Der Freund“ sei ein „zionistischen Blatt“.
Daß Kracht mit der Parallelisierung der beiden „Romantiker“ und Vegetarier Engelhardt und Hitler provozieren würde, ist evident. Daß er indessen beider Geschichten als Weg in die „Barbarei“ (S.67) schildert, macht ihn weder des Nihilismus, noch des Totalitarismus und der Menschenverachtung verdächtig. So erscheint der Roman Krachts wie eine literarische Bestätigung des Adornoschen Aphorismus, dass – in der Gestalt des Protagonisten des Romans - der geschichtlichen Tendenz erst recht derjenige verfällt, der nichts mit ihr zu schaffen haben möchte.
Vielleicht sollten in diesem Zusammenhang auch noch einmal an Schillers Ästhetik erinnern. Im 26. Brief seiner Ästhetischen Erziehung des Menschen schreibt er:
Auf die Frage: »Inwieweit darf Schein in der moralischen Welt sein?« ist also die Antwort so kurz als bündig diese: Insoweit es ästhetischer Schein ist, d. h. Schein, der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht. Der ästhetische Schein kann der Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden, und wo man es anders findet, da wird sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, daß der Schein nicht ästhetisch war.
Die Realität des Kunstwerks, seine Autonomie, der „ästhetische Schein“ ist nach anderen Kriterien zu bewerten als die Realität der „moralischen Welt“.
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