Literatur war immer ein Zwerg. Klein, schwach und gänzlich ohne Einfluss. Aber mehrere Jahrhunderte lang stand sie auf den Schultern von Riesen, die die Welt beherrschten. Und dort oben war sie gut zu hören. Auf der Schulter der Religion propagierte sie lautstark das Selbst-Denken, auf der Schulter der politischen Ideologien die Inkompatibilität und die Dignität des Individuums. Dabei zeigte sich, was Literatur galt, immer in der Auseinandersetzung des Zwergs mit seinem Wirtsriesen.
Aber nach 1989 dankten in rascher Folge die Ideologien ab. Niemand verhandelt heute mehr darüber, wie die ideale Gesellschaft aussehen soll. Stattdessen hat sich die Weltrevolution, von der einst der Kommunismus träumte, als globale Nivellierung nach der einzigen Maßgabe ökonomischer Notwendigkeiten realisiert. Jeder kann heute mit jedem, nämlich Handel treiben. Alle anderen Modelle von gelingendem menschlichem Leben sind obsolet geworden.
Und so ist der Zwerg Literatur unsanft auf dem Boden der ökonomischen Tatsachen gelandet. Keiner ist mehr da, dem man den Schopf zausen, dem man ins Ohr flüstern oder brüllen könnte, damit man gesehen und gehört wird. Literatur im postideologischen Zeitalter ist: Dienstleistung. Und genau so wird sie von einer kommenden Generation auch schon aufgefasst. Es sei denn, sie wagte den äußerst beschwerlichen Aufstieg auf die Schulter der momentan Herrschenden.
Burkhard Spinnen