Dr. Radke: Welche Bedeutung hatten die Gespräche für die weitere Arbeit an dem Projekt?
Schätzle: An Hand der Lebensgeschichten meiner Gesprächspartner und der Äußerungen dazu, was ihnen wichtig ist, habe ich anschließend versucht, meine Bilder gedanklich zu entwickeln. Es war mir wichtig, mit nicht zu vielen Menschen zu arbeiten um einen persönlichen Bezug aufbauen zu können. So konnte ich ihr tägliches Leben in intimen Bildern festhalten und sie auch an Orten fotografieren, mit denen sie prägende Erinnerungen verbinden.
Dr. Radke: Würden Sie ein Beispiel nennen?
Schätzle: Es war mir zum Beispiel wichtig, Holocaust-Überlebende gemeinsam mit ihrer Familie zu fotografieren. Weil die Familie eine große Bedeutung für die Überlebenden hat. Zumeist hatten sie ihre Ursprungsfamilie ja verloren, umso wichtiger war es für sie, eine neue Familie zu gründen.
Dr. Radke: Haben oder hatten Ihre Gesprächspartner Ehepartner oder Lebensgefährten?
Schätzle: Von denen, die ich getroffen habe, ist niemand allein geblieben. Und alle hatten auch mehrere Kinder. In der Kindergeneration ist es anders. Da gibt es nicht wenige, die tatsächlich allein geblieben sind.
Dr. Radke: Sie wollten also möglichst alle Facetten eines „Lebens nach dem Überleben“ abbilden?
Schätzle: Sämtliche Aspekte des Lebens. Der Holocaust war ja nur ein Abschnitt des Lebens der Überlebenden, davor gab es ein Leben und vor allem nach dem Überleben schlossen sich noch viele Jahre Leben an. So spielen die positiven Seiten des Lebens, die Lebensbejahung natürlich auch eine Rolle, aber keine ausschließliche. Zum Beispiel gibt es von Judith Neumark eine Fotografie, die ihr Gefühl beschreibt, den Holocaust und die Zeit danach wie abgetrennt von sich selbst und von ihren Gefühlen zu erleben, wie durch eine Scheibe. Gleichzeitig war es wichtig, dass ich sie auch im Kibbuz fotografiere, weil sie nach ihrer Flucht nach Israel dort bei der Feldarbeit zum ersten Mal wieder bewusst den Himmel, das Licht und die Natur wahrgenommen hatte. Als wir dann im Kibbuz die Aufnahmen machten, hat sie sich so gefreut. Weil die damaligen Gefühle des Glücks und der Hoffnung in diesem Moment wieder wach wurden. Es war ein Geschenk für sie. Und für uns alle.
Dr. Radke: Wie kommt es zu solchen Momenten stillen Glücks bei einem Menschen, der den Holocaust überlebt und einen Teil seiner Familie verloren hat?
Schätzle: Das Fotobuch ist in enger Zusammenarbeit mit Psychologen entstanden. Die meisten der Gesprächspartner haben irgendwann einmal in ihrem Leben psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Auch deshalb war es ihnen gelungen, dass Leben so stark zu bejahen. Ihnen war geholfen worden zu lernen, mit ihrem schweren Trauma umzugehen. Einige haben mir auch gesagt, in ihren Augen hätten sie großes Glück gehabt, so gute Psychiater und Psychologen an ihrer Seite gehabt zu haben, die ihnen rechtzeitig und mit den richtigen Worten halfen. Sie haben ihnen zum Beispiel erklärt, dass ein Zusammenbruch oder eine Krise eine vollkommen normale menschliche Reaktion auf ein so unnatürliches Ereignis wie den Holocaust ist.
Dr. Radke: Und Sie wollten auch wissen, wie das Leben mit einem solchen Trauma dennoch gelingen konnte und wie sich das äußerte?
Schätzle: Mich hat interessiert, was genau es jeweils gewesen ist, das den Neuanfang und das Weiterleben möglich machte. Ich wollte diesmal nicht in erster Linie eine Portraitarbeit machen wie mit den Zeitzeugen in meinem Fotobuch "9645 Kilometer Erinnerung", die ich ausnahmslos nachdenklich, traurig und in ihren Erinnerungen über den Zweiten Weltkrieg abgebildet habe. Das war hier von Anfang an nicht meine Absicht, obwohl es vielleicht einfacher gewesen wäre. Die Gespräche, die ich zu Beginn des Projekts geführt habe, waren zum Teil sehr, sehr heftig. Auch emotional heftig - für die Überlebenden, aber auch für mich. Mit Albträumen und allem, was dazugehört. Es ging überwiegend um den Holocaust, aber auch darum, wie dieser sich auf das Leben der Überlebenden ausgewirkt hat, und es ging natürlich auch immer wieder um das Leben danach.
Dr. Radke: Ihr Fotoprojekt gliedert sich somit in vier Abschnitte?
Schätzle: Ja, der Holocaust wird im ersten Abschnitt thematisiert. Daran schließt sich die Nachkriegszeit und die Ankunft in Israel an, die erneute Hinwendung zum Leben, der Aufbau einer Familie. Im dritten Teil geht es um das Trauma. Welche Traumata traten unmittelbar nach dem Krieg auf, welche im Laufe des Lebens? Wie äußerten sie sich? Und am Schluss, in Abschnitt Vier, äußern sich die Überlebenden zu ihrer Lebensphilosophie.
Dr. Radke: Konnten Sie denn alles so ins Bild setzen, wie Sie es sich nach den anfänglichen Gesprächen vorgenommen hatten?
Schätzle: Ja. Es ist eine Mischung von allem geworden. Manche Aufnahmen repräsentieren symbolisch die Erscheinungsformen des traumatischen Syndroms oder man merkt den porträtierten Personen an, dass sie sich im Moment des Fotografierens gedanklich in der Zeit des Holocaust befinden. Und dann beschäftige ich mich ja auch mit diesen angesprochenen Momenten des inneren Friedens, den positiven Momenten im Leben der Überlebenden, den guten Erfahrungen und den Schauplätzen, mit denen sie verknüpft sind. Wie zum Beispiel das Ankommen in Israel. Oder das Meer.