‚Zu den Dingen!’ – grundsätzlicher hätte die selbstgestellte Forderung des 35. Deutschen Kunsthistorikertages kaum sein können. Mit ihr reagiert der Verband auf zwei die gegenwärtige Fach-Debatte bestimmende Dynamiken, deren Vermittlung die Wissenschaftlerin oder den Wissenschaftler nicht selten vor eine Herkules-Aufgabe stellt. So zeigt sich zum einen die Tendenz, das klassische kunsthistorische Gegenstandsfeld immer weiter aufzufächern und die ästhetischen Objekte – gleichberechtigt neben anderen – in einer Diskurs- oder allgemeinen Kulturgeschichte aufgehen zu lassen. Zum anderen haben sich in den letzten Jahren immer stärker Ansätze herausgebildet, die auf denkbar vielschichtige Weise, einen individuellen Einzelgegenstand in den Blick nehmen. Diese reichen von objektbiographischen Untersuchungen bis hin zum Einsatz einer Vielfalt an naturwissenschaftlich-quantifizierenden Analyseverfahren. Die Frage nach dem künstlerischen ‚Ding’ beziehungsweise danach, was dieses ‚Ding’ gegenüber anderen auszeichnet, stellt sich mit einer vielleicht noch nie dagewesenen Dringlichkeit.
Entsprechend nuancenreich zeigen sich auch die Antworten, die auf dem Deutschen Kunsthistorikertag gegeben werden. Dies wird bereits mit Blick auf die Vielzahl von Formaten deutlich, die in seinem Rahmen angeboten werden. So finden sich im Göttinger Programm nicht nur klassische Fachvorträge, sondern ebenso Exkursionen, Salons, Foren sowie Diskussionen. Und selbst innerhalb dieser Veranstaltungstypen herrscht eine immense Variabilität. Dies macht ein exemplarischer Vergleich zwischen dem Forum zur Kunstgeschichte Italiens und dem Form Frankreichforschung deutlich. So setzt das erstgenannte einen inhaltlich-methodologischen Schwerpunkt. Diskutiert werden u.a. die Möglichkeit der Anwendung des Zentrum-Peripherie-Modells auf das frühneuzeitliche Genua sowie die Sinnhaftigkeit der Deutung eines Selbstporträts von Rosalba Carriera mit Hilfe des Vokabulars der Queer Studies. Daneben stehen Versuche, das für die Renaissance-Kunst so zentrale Bildthema der Verkündigung auf Grundlage von computergestützten Systematisierungen neu zu erschließen.
Etwas anders gestaltet sich demgegenüber der Weg, den das Forum Frankreichforschung ‚zu den Dingen’ einschlägt. Dieses versteht sich nicht in erster Linie als Plattform zum Austausch neuester wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern informiert insbesondere mit Blick auf Kooperations- und Fördermöglichkeiten über alle akademischen Grade hinweg. Nichtsdestoweniger werden auch hier zentrale methodologische Herausforderungen angesprochen, die sich ergeben, sobald sich wissenschaftliche Länderschwerpunkte in einer immer kosmopolitischer denkenden Wissenschaftskultur wiederfinden. Wie globale Kunstgeschichte machen ohne die französische (beziehungsweise italienische) Kunst als Fluchtpunkt aus den Augen zu verlieren?
Es sind vor allem solche Fragehorizonte, die von den beiden Länderforen aufgeworfen werden. Sie machen eindrücklich, welche Variabilität von den jeweiligen Forschern gefordert wird, die eine im besten Sinne zeitgemäße Kunstgeschichte betreiben wollen. Die Frage nach den ‚Dingen’ erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als die erste und letzte Frage einer ästhetischen Wissenschaft.