Nach Angaben des Heidelberger Instituts für internationale Konfliktforschung (HIIK) weist das globale Konfliktbarometer akuell und weltweit vierzig begrenzte und vollentfaltete Kriege aus. In Europa ist es vor allem der anhaltende Ukrainekrieg, der im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht. Das Leid ist auch nach Beendigung von Kriegen nicht vorüber - im Gegenteil. Neben den psychischen, sozialen und kulturellen Folgen besteht in ehemaligen Kriegsgebieten große Gefahr für Mensch und Natur infolge zurückgelassenen Kriegsmaterials, Bomben und Minen, die (noch) nicht detoniert sind oder Kampfstoffe, die Böden und Gewässer kontaminiert haben. Diese Hinterlassenschaft von Kriegen zu beseitigen, ist eine jahrezehntelange Aufgabe. Um heute zu wissen, was einst wo angerichtet wurde, dazu bedarf es eines genauen historischen Quellenstudiums - eine Kernkompetenz von Historikern und Historikerinnen. Dr. Trond Kuster ist Historiker und arbeitet inzwischen in einem Berufsfeld, das im weiteren Sinne als "angewandte Geschichtswissenschaft" bezeichnet werden kann. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Meine tägliche Aufgabe besteht darin, historisches Quellenmaterial zu recherchieren und auszuwerten"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kuster, zuletzt haben wir Sie im Zusammenhang mit Ihrer Dissertationsschrift über Noam Chomsky als Intellektuellen befragt. Inzwischen haben Sie das universitäre Umfeld verlassen und sind nun als Historiker für eine Umwelt-Ingenieurgesellschaft tätig. Was genau machen Sie dort? Mit welcher Aufgabe sind Sie betraut?
Dr. Kuster: Ja, in der Tat arbeite ich seit zwei Jahren als Historiker in einer großen, europaweit tätigen Ingenieurgesellschaft, zu deren Schwerpunkten das Umwelt-Ingenieurwesen gehört – also der Bereich des Ingenieurwesens, der sich u.a. mit der Entwicklung von erneuerbaren Energien, Solar-, Geothermie sowie nachhaltiger Wasser- und Flächennutzung befasst. In diesem Zusammenhang geht es u.a. darum, Brachflächen oder ehemalige Industrie- und Militärstandorte nicht einfach sich selbst zu überlassen, sondern sie wieder mit neuem Leben zu füllen und einer neuen Nutzung zuzuführen. Während in früheren Jahrzehnten z.B. stadtnahgelegene ehemalige Güterbahnhöfe oder Industriegebiete nach der Stilllegung verfielen und stattdessen Neubau- und Gewerbegebiete „auf der grünen Wiese“ ausgewiesen wurden, wird heute versucht, die Altstandorte weiter zu nutzen oder zu renaturieren. Häufig sind die Flächen jedoch mit Altlasten wie Schwermetallen oder anderen für Mensch und Umwelt schädlichen Chemikalien – etwa durch frühere industrielle Produktionen – stark verunreinigt. Auch die beiden Weltkriege haben ihre Spuren hinterlassen, sodass vor Eingriffen zu überprüfen ist, ob sich z.B. Bombenblindgänger oder andere Kampfmittel im Boden befinden, von denen ganz konkret und unmittelbar bis heute Gefahr für Leib und Leben ausgeht.
Um die Historie einer Liegenschaft und eines Ortes zu erfassen, erstelle ich als Historiker Gutachten, meist sogenannte historisch-genetische Rekonstruktionen, in denen ich anhand von historischen Quellen, etwa Bauplänen, Betriebsunterlagen oder auch Zeitzeugenaussagen, die frühere Nutzung rekonstruiere. Ferner recherchiere ich u.a. in Unterlagen aus Nationalarchiven der USA, Englands und Russlands, um Erkenntnisse über eventuelle Luftangriffe und Kriegsereignisse in Erfahrung zu bringen. Zudem arbeite ich täglich eng mit Geoinformatikern, Geologen, Geographen und Archäologen zusammen, die u.a. historische Luftbilder aus dem Zweiten Weltkrieg auswerten. Aus den Luftbildern lassen sich ebenfalls zentrale Informationen – insbesondere zu Kriegsschäden durch Luftangriffe – entnehmen. Meine tägliche Aufgabe besteht also meist darin, in Archiven im In- und Ausland zunächst historisches Quellenmaterial zu recherchieren oder bereits beschaffte Archivalien – oft im Zusammenspiel mit historischen Luftbildern – auszuwerten und abschließend eine gutachterliche Erstbewertung in Bezug auf die Kampfmittelbelastung und die Altlastensituation vorzunehmen. Auf Basis meines Gutachtens erfolgen dann gegebenenfalls Sondierungen durch den Kampfmittelräumdienst oder Boden- und Grundwasseruntersuchungen. Sollten diese Untersuchungen den Verdacht bestätigen, wird eine Fläche großflächig von Umweltverunreinigungen gesäubert oder aber eine Bombe entschärft.