So ist der Diskurs des Körperkults nicht denkbar ohne sein Korrelat, den gegenwärtigen Religionsdiskurs. Das Wort Kult (von lat. cultus = Verehrung, Pflege) stammt zwar nicht originär aus dem Bereich des Religiösen, gleichwohl wird es traditionell in einem religiösen Sinne verstanden. Zu den typischen Kennzeichen eines religiösen Kults zählen dabei ein sinnstiftendes Objekt, eine Gruppe von Menschen, die dieses Objekt verehrt, und das vor allem in Form von ritualisierten
Handlungen.
In diesem Sinne scheint es durchaus nahe liegend, von einem Körperkult zu sprechen. Denn in der Tat wird der menschliche Körper von einer großen Personengruppe als sinnstiftendes Objekt verehrt, das durch diverse Körperrituale geformt und ästhetisiert wird. Der Körperkult kann insofern als eine Art Diesseitsreligion bezeichnet werden, als eine „neue Sozialform der Religion“ (Thomas Luckmann), die an die Stelle der institutionellen Religion getreten ist. Zentraler Glaubensinhalt
dieser Diesseitsreligion ist der Körper als sinnstiftende Instanz.
Der Glaubensbezug ist statt auf eine transzendente Welt auf
„lebensweltliche Immanenz“ (Melanie Knijff) gerichtet, also auf Erlösung im Diesseits. Glaubensvermittler sind Körperexperten wie Fitnesstrainer, Ernährungsberater oder Schönheitschirurgen. Die zentralen Glaubenssymbole verkörpern bspw. der Waschbrettbauch, „90-60-90“ oder „size zero“-Jeans. Die Glaubensgemeinschaft trifft sich in postmodernen Soziotopen wie dem Fitnessstudio oder der Wellnessfarm. Glaubensrituale äußern sich in festen Trainingstagen, -zeiten und -abläufen. Die Bibel dieser Körperreligion sind Zeitschriften wie Fit for Fun, Men’s Health oder Body Shape. Und auch eine Todsünde
findet sich in dieser Körperreligion, nämlich dick zu sein.
Bei aller Überspitzung legen es solche Beispiele nahe, den zeitgenössischen Körperkult als Kehrseite des Bedeutungsverlusts der traditionellen Kirchenreligionen zu verstehen. Dies insofern, als es im Zuge dieses Säkularisierungsprozesses zwar zur Erosion religiös begründeter Sinnangebote gekommen ist, damit jedoch nicht ebenso das Sinnbedürfnis der Menschen schwand. Sinnsuche ist ein weit verbreitetes Zeitphänomen, und das religiöse Sinn-Vakuum füllt nun offensichtlich auch der Körperkult. Sinnfindung – synonym die Suche nach Identität, Halt, Sicherheit und Orientierung im Leben – erfolgt immer häufiger über Investitionen ins „körperliche Kapital“ (Pierre Bourdieu), versprechen diese Investitionen doch durch Eigenleistung erzielbare, spür- und sichtbare Erfolge, die wiederum soziale Anerkennung und Selbstgewissheit vermitteln. Der Heiligsprechung des Körpers korrespondiert das Heilsversprechen, Erlösung im Diesseits zu finden. Wobei
Diesseitserlösung letztlich nichts anderes meint als Selbstfindung, ist doch das Selbst der eigentliche, kultisch angebetete Gott der Gegenwart.
Insofern diese Sakralisierung des Profanen das nicht-intendierte Nebenprodukt fundamentaler gesellschaftlich-kultureller Prozesse ist, allen voran der Säkularisierung und der Individualisierung, stellt sich erst recht die Frage, weshalb diese Entwicklung mit dem negativ konnotierten Ausdruck Körperkult bezeichnet wird. Hier hilft die systemtheoretische Feststellung weiter, wonach jede "Beobachtung“ die Unterscheidung einer Binarität darstellt, deren eine Seite bezeichnet wird, während die andere sozusagen im Hintergrund mitschwingt. Wenn in einer Gesellschaft bestimmte Körperpraktiken beobachtet und als Körperkult bezeichnet werden, dann verweist das zugleich auf die unausgesprochene Kehrseite dieser Bezeichnung. In diesem Fall scheint es allein etymologisch nahe liegend, dass es sich
hier um die Unterscheidung Kult – Natur handelt. Die stillschweigend mitschwingende Botschaft der abwertenden Rede vom Körperkult wäre dann die positive Wertschätzung eines natürlichen Körperumgangs oder einer natürlichen Schönheit. Wer explizit von Körperkult spricht, sagt implizit, dass es so etwas wie natürliche Schönheit gibt oder zumindest geben sollte. Also besser – in einem moralischen Sinne – Körbchengröße AA oder eine Hakennase als Brüste wie Lolo Ferrari oder eine Nase wie Michael Jackson.
Die Vorstellung einer natürlichen Schönheit oder Naturschönheit ist selbstredend eine romantische Illusion. So wenig es einen natürlichen Körper gibt, gibt es eine natürliche Schönheit. Der menschliche Körper ist ein durch und durch soziales Phänomen: Was immer Menschen mit ihrem Körper tun, welche Einstellung sie zu und welches Wissen sie von ihm haben, ist geprägt von der Kultur, Gesellschaft und Epoche, in der diese Körperpraktiken, -vorstellungen und -bewertungen auftreten. Die Kulturgeschichte der Schönheit lehrt überdies, dass die
Ästhetisierung des Körpers, das Sich-schön-Machen, ein universelles Phänomen ist. Das „Schönheitshandeln“ (Nina Degele) hat zwar zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Formen und soziale Funktionen gehabt bzw. hat dies nach wie vor. Dennoch bleibt die Verschönerung des Körpers ein kultur- und zeitübergreifendes
Phänomen. Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle,
pejorative Körperkult-Diskurs weniger eine profunde Gesellschaftskritik denn die schlichte Wiederholung einer simplen, kulturkonservativen Ideologie. Dieser folgend ist das Wahre, Gute, Schöne nicht der Körper, sondern der Geist oder die Seele, und wirklich wertvoll ist allein die innere, nicht jedoch die äußere Schönheit. Wer’s glaubt, wird selig.