L.I.S.A.: Wenn Sie sich die Klassiker der Literaturgeschichte vor Augen führen, die das Erleben und den Umgang mit Seuchen zum Thema haben, gibt es da etwas Gemeinsames? Oder muss man hier stark nach literarischen und historischen Epochen unterscheiden? Lassen sich beispielsweise Daniel Defoes Bericht über die Pest in London 1665 mit dem Roman "Die Pest" von Albert Camus aus dem Jahr 1947 vergleichen? Sind und handeln die Menschen im Angesicht der Seuche immer und zu allen Zeiten gleich oder zumindest ähnlich?
Prof. Steiner: Um bei der letzten Frage zu beginnen: Handeln Menschen immer und zu allen Zeiten gleich oder ähnlich? Zumindest stellen sich in extremen Lagen Muster ein, die sich aus Sachzwängen zu ergeben scheinen. In Ihrer Frage klingt die einschlägige Debatte zwischen Sartre und Camus an. Camus reflektiert in seinem berühmten Roman über die Pest als Ausdruck einer allgemeinen conditio humana und beschreibt verschiedene Weisen, auf die in dieser Extremsituation zum Ausdruck kommenden Absurdität der Existenz zu reagieren. Sartre hat ihn deshalb angegriffen: Camus habe versäumt, den historischen Bedingtheiten Rechnung zu tragen.
Wir sind vielleicht erst einmal erstaunt über die Ähnlichkeiten, über die Ähnlichkeiten sowohl zwischen den Werken als auch über manch einen Wiedererkennungseffekt zur heutigen Lage. Und zwar deshalb erstaunt, weil man als kulturwissenschaftlich orientierter Literaturwissenschaftler habituell, methodisch sowieso, dazu neigt, zu historisieren oder kulturell zu relativieren. Liest man nun die Klassiker der Seuchenliteratur wieder, frappiert es, wie wenig sich manchmal geändert zu haben scheint. Um die beiden von Ihnen genannten Autoren, Defoe und Camus, anzusprechen: Gewiss sind die beiden Werke höchst verschieden, mehr als 200 Jahre liegen zwischen ihnen. (Defoe hat die Pest von 1665 ja nicht selbst erlebt, sondern verfasst seinen angeblichen Augenzeugenbericht 1722 unter Rekurs auf historische Dokumente, Statistiken und Aufzeichnungen eines Verwandten). Und doch verzeichnen sie sehr ähnliche Beobachtungen: Die Menschen sind zunächst erstaunt, als sie die ersten Nachrichten von der Seuche vernehmen, sie zeigen anfangs eher geringe Anzeichen der Beunruhigung. (Auf deutlich extremere Weise ignoriert Gustav von Aschenbach in Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ die Signale der um sich greifenden Cholera.) Die Behörden zögern oder wiegeln ab. (Natürlich wird man da nachdenklich, wenn man hört, dass Szenarien eines Pandemie-Ausbruchs und ihrer Bekämpfung seit Jahren bei den verantwortlichen Institutionen vorliegen, aber zunächst nicht gehandelt wurde.) Als sich die ersten Zeichen verdichten, dass die Pest da ist, gibt es Spekulationen über die Herkunft, und damit implizit oder explizit über die Schuldigen. Es werden Sündenböcke haftbar gemacht. Es gibt egoistisches, aber auch selbstloses, karitatives Verhalten.
Man begibt sich, sofern nicht betroffen, in die Isolation. Davon erzählt Defoe, das ist aber auch die Ausgangslage bei Boccaccio („Decamerone“) oder in Edgar Allan Poes Erzählung „The Mask of the Red Death“. Defoe beschreibt u.a. auch das Hamstern und Horten.
Das alles spricht gewiss nicht dafür, dass sich Menschen immer und zu allen Zeiten gleich verhalten, zumal ja Seuchen in bestimmter Weise selbst historisch sind, es gibt sie, seit Menschen sesshaft geworden sind und dicht aufeinander hocken. Aber es spricht doch dafür, dass es Ähnlichkeiten gibt, die sich aus der Natur der Sache ergeben.
Um aber die Antwort auf Ihre Frage abzuschließen: Natürlich darf man sich mit der Diagnose von Ähnlichkeiten nicht zufriedengeben, ohne damit gleich Sartre Recht geben zu wollen. Es gibt ja auch bedeutende Unterschiede in der jeweiligen literarischen Interessenlage. Defoe legt ein erstaunliches Plädoyer für einen vernünftigen, rationalen Umgang mit der Seuche an den Tag, sein Erzähler verhält sich ausgesprochen empirisch. Bei Camus geht es eher um eine existenzielle Reflexion. Die Pest ist bei ihm bisweilen mehr Allegorie als Gegenstand des Erfahrungswissens.
Wenn sich die Protagonisten bei Boccaccio in die ländliche Isolation begeben, dann, um ein ganz bestimmtes Interesse zu pflegen: Es geht darum, sich selbst und einander durchs Erzählen zu kultivieren, und es geht darum, menschliche Eigenarten, Sitten („mores“) in den Erzählungen zu begreifen. Die Isolation bei Poe bedeutet dagegen eher eine sündenstolze Segregation, dort frönt man einem nihilistischem Hedonismus im Angesicht des drohenden Endes.
Und natürlich darf man die Diagnose von Ähnlichkeiten zur heutigen Lage nicht zu weit treiben, ungeachtet aller Wiedererkennungseffekte. Corona-Parties mögen dem bei Poe zum Ausdruck kommenden Geist bzw. Ungeist ähneln. Wir erleben aber keine Pest. Es wären schlimmere Pandemien, weitaus aggressivere Erreger als das Corona-Virus vorstellbar.