Seit jeher gelten Massenmedien als wichtige Mittel in Krieg und Nachkriegszeit. So auch der Rundfunk, der im Zweiten Weltkrieg erstmals gezielt und institutionell als Propagandamittel eingesetzt wurde. Doch auch nach Ende des Krieges erkannten vor allem die Alliierten Mächte die Möglichkeiten des Rundfunks und nutzen das Medium zur Re-Education und Demokratisierung der deutschen Bevölkerung. Dr. Melanie Fritscher-Fehr hat dem Leitmedium der Nachkriegszeit ihre Dissertation gewidmet und den sogenannten "Schulfunk" näher untersucht. Wir haben ihr dazu unsere Fragen gestellt.
"Eine Rückversicherung durch und eine Orientierung in der Geschichte"
L.I.S.A.: Dr. Fritscher-Fehr, Ihre kürzlich veröffentlichte Publikation trägt den Titel “Demokratie im Ohr”. Sie beschäftigen sich in dieser mit der Entwicklung des Radios in Westdeutschland und untersuchen, welchen Beitrag das Radio zur Demokratisierung der Bevölkerung leistete. Woher rührt Ihr Interesse an dieser speziellen Thematik? Welche Überlegungen gingen der Untersuchung voraus?
Dr. Fritscher-Fehr: Vielleicht sollte ich in einem ersten Schritt voranstellen, dass ich in meiner Arbeit einen geschichtskulturellen Zugang gewählt und mich ausschließlich mit Geschichtsbeiträgen im Radio und deren Bedeutung für den Demokratisierungsprozess Westdeutschlands nach 1945 auseinandergesetzt habe. Mein Interesse an erinnerungs- bzw. geschichtskulturellen Repräsentationsformen oder Manifestationen begleitet mich bereits sehr lange und hat sich im Verlauf der Entwicklung immer stärker auf massenmediale Darstellungsformen konzentriert: Geschichte ist in unserer Alltagswelt schließlich omnipräsent, insbesondere in massenmedialen Erzählungen. Ob in der Kinder- und Jugendbuchliteratur, in historischen Romanen, in populärkulturellen Darstellungen in Kino- und Spielfilmen oder verstärkt in Serien verschiedener Streaming-Dienste: Geschichte und ihre Transformation in mediale, weitreichende Formate üben offenbar eine große Faszination auf Menschen aus. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive habe ich mich daher schon immer für die Frage interessiert, warum das so ist.
Warum wenden wir uns zu bestimmten Zeitpunkten spezifischen historischen Sujets zu und was sagt diese Auswahl und ihre jeweilige Interpretation eigentlich über uns aus? Warum brauchen wir in unserer alltäglichen Welt offensichtlich eine Rückversicherung durch und eine Orientierung in der Geschichte und weshalb stört es uns als Konsumentinnen und Konsumenten gar nicht so sehr, wenn die massenmedialen Erzählungen Elemente aufnehmen, die zweitweise eher ins Fiktionale reichen und weniger einer, wie auch immer gearteten „historischen Wahrheit“ entsprechen?
Aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive ist hierbei wichtig, dass sich Massenmedien aktiv an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen beteiligen und Inhalte nicht lediglich abbilden oder wiedergeben. Massenmediale Darstellungen erzeugen auf ihre eigene Weise soziales Wissen, etablieren für uns Normen und andere Vorstellungssysteme und verleihen unserer Gegenwart und der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft funktioniert, einen bestimmten Sinn.
Und da für die unmittelbare Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre hinein keine Studien vorlagen, die der Frage nachgegangen sind, in welcher Weise sich die damaligen Massenmedien – und hier im Besonderen das Radio als Leitmedium dieser Zeit – historischer Stoffe bedienten, reizte mich die Auseinandersetzung mit diesem Thema besonders. Ich stellte unter anderem die Frage, wie das wichtigste Medium dieser Zeit einen Umgang mit Geschichte gefunden hat und welche historischen Stoffe für die zeitgenössische Gegenwart als sinnstiftend und nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft als legitimierend empfunden worden waren.
Mit diesen Fragen ging die Frage nach der demokratisierenden Wirkung des Hörfunks einher: Inwiefern konnten historische Themen und ihre massenmediale Übersetzung dazu beitragen, eine tief verunsicherte, eben nicht demokratisch sozialisierte Gesellschaft, in eine neue politische Ordnung zu überführen, diese auch zu verinnerlichen und zu akzeptieren? Die intellektuelle, ideengeschichtliche Entwicklung der Bundesrepublik ist bereits eingehend und sehr gut durch die historische Forschung dokumentiert und interpretiert worden. Aber wie gesellschaftliche Wandlungsprozesse durch das wichtigste Massenmedium mit ausgehandelt wurden und sich vollzogen haben, das war eine Frage, mit der sich bisher nur Einzelstudien (mit einem anders gelagerten Erkenntnisinteresse) beschäftigt hatten. Zudem war für mich die Feststellung wichtig, dass das Radio Menschen erreichte, die keine Leserinnen und Leser intellektueller, kulturhistorischer Zeitschriften oder soziologisch-historischer Studien waren; deren Akzeptanz für eine demokratische Ordnung aber umso entscheidender war, damit sich die bundesrepublikanische Gesellschaft tatsächlich irgendwann als eine demokratische verstand.