Die Beziehungen des Westens zu Russland sind meilenweit entfernt von der Vision, die mit dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der Teilung Europas verbunden waren. Was nach einer neuen Ära der Verständigung und Zusammenarbeit aussah, ist längst in eine neue Phase des Kalten Kriegs bzw. des Kalten Friedens umgeschlagen. Auf beiden Seiten herrschen längst wieder Perzeptionen der Gegenseite vor, die von Misstrauen und Konkurrenz geprägt sind. Die anhaltenden Konflikte vor allem in der Ukraine und in Syrien sind Ausdruck dieser neuen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Wie konnte es dazu kommen? Welche Rolle spielt dabei die NATO? Welche die russische Außenpolitik? Und wie könnte eine neue Entspannungspolitik aussehen? Der frühere außenpolitische Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Prof. Dr. Horst Teltschik, hat sich in seinem neuesten Buch dieser Fragen angenommen. Wir haben ihn um Antworten gebeten.
"Warum haben wir diese Chance nicht genutzt oder nicht nutzen können?"
L.I.S.A.: Herr Professor Teltschik, Sie haben ein neues Buch geschrieben, das zuletzt unter dem Titel „Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“ erschienen ist. Was hat Sie motiviert, dieses Buch zu schreiben? Welche Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Prof. Teltschik: Als außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl habe ich hautnah miterlebt, wie sich die Ost-West-Beziehungen in den 1980er Jahren entwickelt haben, beginnend mit einem neuen Höhepunkt des Kalten Krieges Anfang der 80er Jahre aufgrund der Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten bis zur friedlichen Revolution in den Jahren 1989/90. Der Abschluss dieser Phase war die Unterzeichnung der „Pariser Charta für ein neues Europa“ im November 1990, unterzeichnet von allen 34 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten. Ziel dieser Vereinbarung war die Entwicklung einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok oder wie Präsident Michail Gorbatschow stets sagte, der Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses, in dem alle Bewohner die gleiche Sicherheit haben sollten. Welch' ein Traum!? Welch' eine Vision!? Die Frage danach, die sich mir immer stellte, war: Warum haben wir diese Chance nicht genutzt oder nicht nutzen können? Mein Buch ist der Versuch einer Antwort darauf.