L.I.S.A.: Frau Dr. Liermann, im Zuge der Finanz- und Eurokrise gerät nun Italien verstärkt in den Blickpunkt. In Griechenland ist der Staat hoffnungslos überschuldet, die Bevölkerung einem beispiellosen Sparpaket ausgesetzt. Wie stellt sich die Situation in Italien zurzeit dar? Was ist das Kernproblem?
Dr. Liermann: Vorausschicken möchte ich, dass ich keine Finanz- und Wirtschaftsexpertin bin - was aber angesichts der Tatsache, dass die eigentlichen Fachleute derzeit mit ihren Weisheiten nicht sehr viel weiter kommen, vielleicht sogar ein Vorteil ist. Der Schuldenstand Italiens als der drittgrößten Volkswirtschaft der Euro-Zone liegt deutlich über seiner jährlichen Wirtschaftsleistung. Die Staatsverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt bei 120. Das ist doppelt so viel, wie nach dem europäischen Stabilitätspakt eigentlich erlaubt ist.
Zuletzt mussten 7 % Zinsen für italienische Staatsanleihen gezahlt werden. Ein solches Zinsniveau ist brutal, aber nicht bedrohlich. So jedenfalls sehen es die Regierung in Rom und Berlin, da die italienische Wirtschaft als solide eingestuft wird. Gewaltige Sparanstrengungen stehen den Italienern gleichwohl bevor. Das ist den meisten auch bewusst, ohne dass es bislang zu Panik oder größeren sozialen Protesten gekommen wäre, vielleicht auch, weil man konkrete Einschnitte ja noch nicht merkt. Aber vielleicht ist es lohnenswert, bei dem „Kernproblem“, nach dem Sie fragen, zwei Ebenen zu unterscheiden:
a) Da ist die oben kurz angesprochene, eher mechanisch-monetäre Seite. Hier lassen sich Gesetzmäßigkeiten erkennen (worunter ich durchaus auch die Irrationalität des Marktes zähle), die zur Erschütterung der globalen Finanzmärkte geführt und in der Folge auch die Eurozone in Bedrängnis gebracht haben - und dort dann noch einmal besonders jene Länder, die gerade dem Euro einen beispiellosen Aufschwung verdankt haben. Der Euroraum sorgte für niedrige Zinsen in früheren Hochzinsländern und eröffnete dadurch neue Exportmöglichkeiten, speziell für Deutschland. Die jetzige Situation ist also in gewisser Weise auch die Quittung für unseren mit billigem Geld finanzierten Aufschwung. (Obwohl es sicher gut wäre, hier auch genauer hinzuschauen: Wer hat eigentlich genau vom Euro profitiert? Wie hat sich die neue Währung auf Gehälter und Preise ausgewirkt? Gerade für Italien gilt: im öffentlichen Dienst war der Euro ein „Teuro“, der die Kaufkraft großer Bevölkerungsgruppen geschmälert hat.)
b) Vielleicht interessanter noch scheint mir der Versuch, die aktuelle Entwicklung in einem größeren Zeithorizont zu sehen. Die Situation in Italien spiegelt ein Kernproblem der europäischen Konstruktion in einer globalisierten Welt. Es ist charakterisiert durch das beispiellose Wachstum seit Ende des II. Weltkriegs, dank einer geglückten Balance zwischen ökonomischer Logik und sozialer Vernunft. Wirtschaftswachstum ging Hand in Hand mit Umverteilung in immer größerem Maße. Das führte zu Fortschritten auf allen gesellschaftlichen Sektoren. Heute aber sehen wir uns dem Stillstand gegenüber, die Erwartung einer permanenten Steigerung ist weggebrochen.
Von den „Grenzen des Wachstums“ hatte der Club of Rome Anfang der 70er Jahre gesprochen, in einer Zeit, in der „Wachstum“ ein kaum hinterfragter Leitbegriff war; heute heißt es gar “Ende des Wachstums”. Aber heißt das auch: Ende einer solidarischen Umverteilung? Hier sehe ich die große politisch-ethische Herausforderung für Europa, eine Zukunft zu denken und lebbar zu machen, deren Qualität nicht von ökonomischen Steigerungsraten abhängt. Tatsächlich dominiert aber intellektuelle Hilflosigkeit, die in komplett antagonistischen Deutungen der Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Unkonkrete Bedrohungsszenarien werden entworfen, die Angst machen. Es werden simplizistische Erklärungsmuster angeboten, die emotionalisierbar sind.
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