L.I.S.A.: In Deutschland gibt es derzeit starke narrative Tendenzen, auch die Deutschen als Opfer des Nationalsozialismus, als Opfer einer verbrecherischen Clique, darzustellen, so wie beispielsweise in "Unsere Mütter, unsere Väter". Wo ist da Irmina zu verorten? Ist sie auch ein Opfer des Nationalsozialismus, wenn man an ihre Zeit in England, an ihre unerfüllte Liebe zu Howard, an ihre Verrohung zurück in Deutschland denkt? Wie steht es um Identifikation mit der Hauptfigur und um Sympathielenkung?
Prof. Korb: Der SPIEGEL bescheinigte Formaten wie der von Ihnen angesprochenen Fernsehserie, dass sie vor allem die in den 1950ern und 1960ern verbreitete Sehnsucht, die Deutschen als ein Volk von Opfern darzustellen, in ein modernes Gewand übertragen wollen. Yelins Roman unterscheidet sich hier allerdings deutlich.
Yelin: Ja, denn zum einem versucht er, ohne Pathos und Wir-Gefühl auszukommen. Obgleich Irmina ein Frauenschicksal erzählt, das es so oder anders hunderttausendfach gegeben hat, wollte ich nicht „unsere“ Irmina zeichnen. Zum anderen ist Irmina kein Opfer. Sie hat in England genug Einsichten in andere Lebensweisen und Freiheitskonzepte bekommen, um besser zu wissen, welche Konsequenzen ihre Rückkehr und Heirat in Deutschland haben würde. Sie interessiert sich aber nicht für Politik, sondern nur in eingeschränkterem Rahmen für ihr eigenes Fortkommen. Dass sie auch immer wieder auf Widerstände und Hindernisse aus Umfeld und Geschichte stößt, würde ihr einen anderen Weg zwar erschweren, aber nicht unmöglich machen. Und das rasche Arrangement und die Hinwendung zum Nationalsozialismus wären damit noch lange nicht zwingend! Das resultiert ja aus ihrem Drang zum gesellschaftlichen Aufstieg, der eben größer ist als ihre anderen Motivationen. Irmina hat in ihrem anfänglichen Freiheitswillen durchaus auch sympathische, moderne Wünsche. Der Leser, der sie anfangs vielleicht noch hoffnungsvoll begleitet, scheitert dann eben auch mit ihr, an den Umständen, aber eben auch an ihrer Entscheidung. Einen schablonenhaften Charakter wollte ich vermeiden.
Prof. Korb: Allerdings möchte ich in den Raum stellen, dass die positive Resonanz auf den Roman vielleicht trotzdem mit dem von Ihnen beschriebenen Trend zu tun haben könnte. Irmina ist zwar kein Unschuldslamm, aber fungiert möglicherweise, gerade weil sie nicht als „Böse“ gezeichnet wird, doch wieder als Projektionsfläche für das „Wir“. Das erinnert mich an Harald Welzers Opa war kein Nazi: Selbst wenn die Enkelgeneration genau Bescheid wusste über den nationalsozialistischen Eifer ihrer eigenen Großeltern, so dichtete man die konkreten Personen doch wieder in Widerstandskämpfer um.
L.I.S.A.: Welche Resonanz haben Sie denn bisher eingefangen? Wie ist das Feedback auf "Irmina"?
Yelin: Sehr positiv, alle großen Tageszeitungen haben lobende Rezensionen geschrieben. Die einen beziehen sich dabei auf die Narration, die anderen auf die historische Fragestellung, die dritten auf das Artwork.
Prof. Korb: Ich war sehr beeindruckt von der Resonanz, Irmina wurde in verschiedenen Formaten hoch- und runterbesprochen. Davon kann man als Historiker nur träumen.
L.I.S.A.: Herr Professor Korb, Sie haben neben der fachwissenschaftlichen Beratung vor allem durch ein Nachwort zu diesem Comic beigetragen. Was hat Sie dazu bewogen und welcher Punkt ist Ihnen dabei besonders wichtig?
Prof. Korb: Als Historiker habe ich nicht alle Tage die Gelegenheit, an einem Comicroman mitzuwirken, und da ich mich für die Repräsentationen des Holocaust interessiere, war das für mich besonders reizvoll. Ich habe selber zu den Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Judenverfolgung geforscht und habe sofort ja gesagt, als Barbara mich um Rat gefragt hat. Meine Aufgabe fiel dann kleiner aus als erwartet, weil sie bereits selbst in beeindruckend genauer Weise recherchiert hatte. Mir war es vor allem wichtig, dass auf allen Erzählebenen der Geschichte eine Vielzahl von möglichen Reaktionen auf das Zeitgeschehen abgebildet wird, sei es im London der frühen 1930er Jahre, sei es im Berlin unter der Herrschaft der Nazis. Und dies deckte sich perfekt mit Barbaras Vorstellungen und der Art, wie sie ihre Figuren zeichnete: als vielschichtige Menschen, die sich in der Zeitgeschichte bewegen und die dem Leser und der Leserin eindeutige Identifikation ebenso erschweren wie pauschale Verdammung.