Ein homme de lettres ist jemand, der sich in mehreren literarischen Gattungen gut auskennt, diese sogar beherrscht und dabei als Spezialist in der Formulierungskunst gilt. Walter Boehlich (1921-2006) war ein so verstandener homme de lettres und darüber hinaus Prototyp und Inbegriff des bundesrepublikanischen kritischen Intellektuellen in der Nachkriegszeit. Seine Position als langjähriger Cheflektor des Suhrkamp Verlags unterstrich seinen intellektuellen Einfluss nur noch. Sein zentrales Kommunikationsmittel war der Brief - insgesamt hat der Lektor, Übersetzer, Kritiker, Philologe und Publizist mehr als 20.000 Briefe geschrieben und hinterlassen. Der Großteil wird heute im Siegfried Unseld-Archiv beim Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie im Literaturarchiv der Goethe-Universität des Universitätsarchivs Frankfurt verwahrt. Der Literaturhistoriker Dr. Wolfgang Schopf sowie der Historiker Christoph Kapp haben zuletzt eine Auswahl dieser Briefe herausgegeben und kommentiert. Wir haben ihnen dazu unsere Fragen gestellt.
"Ein aus der Zeit gefallen schönes Buch"
L.I.S.A.: Herr Schopf, Herr Kapp, Sie haben gemeinsam ein Buch herausgegeben, das eine große Auswahl an Briefen des Übersetzers und Publizisten sowie langjährigen Cheflektors des Suhrkamp Verlages, Walter Boehlich, enthält. Wie ist dieses Publikationsprojekt entstanden? Warum haben Sie sich Walter Boehlich ausgesucht?
Schopf/Kapp: Die Idee ist schon mehr als zehn Jahre alt gewesen, bevor wir an die Arbeit gingen. Sie entstand, als Boehlichs Nachlass in das Literaturarchiv der Frankfurter Goethe-Universität kam und seine Nachlassbibliothek an das Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam. Darauf gaben die geschätzten Kollegen Helen Thein und Helmut Peitsch eine Auswahl seiner Essays heraus, es folgte ein von Boehlichs damaligen Kollegen besorgter Band über den „Lektorenaufstand“ bei Suhrkamp und die Gründung des Verlags der Autoren. Damit war erstmals eine Entwicklung Walter Boehlichs nachvollziehbar, die sich nicht nur auf eine Phase seines Wirkens, etwa im Suhrkamp Verlag, beschränkte. Und dann brauchte es noch einen engagierten Verleger, der ein aus der Zeit gefallen schönes Buch machen wollte sowie einen 100. Geburtstag als Anlass.