1980 forderte Max Imdahl mit seinem Grundlagenwerk zu Giotto eine Neubewertung des Sehens. Zu sehr war die deutsche Kunstgeschichte methodisch von der Ikonologie Erwin Panofskys geprägt, die vom Wiedererkennen und „Kenntnis literarischer Quellen"[1] als Grundvoraussetzungen zur endgültigen Werkentschlüsselung bestimmt war. Wiedererkennen verlangt aber seinem Wesen nach Vorwissen, welches wiederum den Rezipient*innenkreis in eine akademisch gebildete Elite einschränkte. Außerdem verlangt Wiedererkennen Symbole, Allegorien, Personifikationen, Objekte – schlicht Figürlichkeit in Bildern. Imdahls Anliegen beinhaltete, zwei bisher vernachlässigte Aspekte in den Kunstkosmos zu integrieren. Zum einen sollte jede*r durch seine Seminare Zugang zu Kunst erhalten, auch ein Werkarbeiter der Bayer AG. Zum anderen sollte auch abstrakte und zeitgenössische Kunst versprachlicht werden können. Indem er das unmittelbare, beschreibende Sehen vor den Objekten förderte, entwickelte er eine neue Herangehensweise an Kunst, die sich trotz aller Restaurierung in gewissen Bereichen immer noch mit Panofskys Ikonologie verschließen ließe.
Der Bereich der Angewandten Künste scheint sich im Moment in einer ähnlichen vor-imdahlschen Situation zu befinden. Ausgangslage des Forums „Angewandte Künste – Schatzkunst, Interieur und Materielle Kultur“ des 35. Kunsthistorikertags Göttingen war die immer noch gängige Hierarchisierung der Kunstgattungen. Den Expert*innen folgend stehen die Angewandten Künste kontinuierlich im Schatten von Malerei, Skulptur und Zeichnung. Grund hierfür ist die seit dem 18. Jahrhundert gängige Konzentration auf die Ästhetik, durch die gerade einmal ca. 20% der Kunstgeschichtsbestände untersucht wurden und immer noch werden. Die Entwicklung der Kunstgeschichte, die sich seit dem 20. Jahrhundert vor allem durch Panofsky als Geistesgeschichte versteht, untermauerte die methodische Einschränkung. Ein weiteres Problem, das seit dem 18. Jahrhundert besteht, ist die Gewichtung der Singularität – zusammengesetzt aus dem Genie, das seine Ideen unabhängig von anderen aus seinem Geist schöpft, und aus dem Originalwerk, das sich von Kopie und Fälschung distanziert.
Die an die Beiträge anschließende Diskussion wurde insbesondere von der Frage getragen, wieso sich jede Generation erneut damit abfindet, diese Missstände wiederholt zu thematisieren und Vorschläge zur höheren Wertschätzung anzustellen. Immerhin weisen sowohl in der Kunstgeschichtsforschung als auch aus dem Kunstbetrieb selbst – William Morris mit seiner arts and craft Bewegung – ähnliche Vorhaben auf. Ähnlich den abstrakten Werken fehlt den kunstgewerblichen Objekten eine angemessene Wertschätzung, die unter anderem auch wegen des fehlenden methodischen Werkzeugs scheitert. Immerhin bildet sie die Basis, auf welche Art und Weise gesehen und analysiert wird.
Im Folgenden werden zwei Vorschläge angesprochen, die zu einer Aufwertung beitragen könnten. Erstens muss der Umgang mit Begrifflichkeiten reformiert werden. Expert*innen setzen Begriffe wie 'Kunstgewerbe' und 'Angewandte Kunst' in Anführungszeichen oder schieben unbeholfen ein 'so genannt' vor die Begrifflichkeiten. Damit suggerieren sie eine eigene Distanz zu Begriff (und damit auch Inhalt) und erwecken den Eindruck, dieser sei ein von außen auferlegte Definition. Allerdings werden auch keine neuen Begriffsbestimmungen vorgeschlagen, sondern Passiv- bzw. Verteidigungshaltungen eingenommen. Damit befindet sich die Diskussion in einer Schwebesituation, die es gilt, durch einen Begriff, den alle vertreten, aufzuheben.
Der zweite Vorschlag ist nicht weniger fundamental und wurde teilweise schon im Forum diskutiert. Besonders inspirierend war der Einwand von Barbara Welzel, das Problem an der Wurzel zu packen, in dem Fall, die kunsthistorische Ausbildung an Universitäten zu ändern und zu erweitern. Es gilt, während des Studiums, zum Beispiel in spezifischen Summer-/ Winterschools, haptische Fähigkeiten zu erlangen und die Materialkunde zu stärken. Denn gerade der Fakt, dass angewandte Kunstobjekte auch mehr oder weniger als Gebrauchsgegenstände genutzt werden, hat zur Folge, dass sie auch haptisch erfahrbar sein müssen. Es reicht also nicht, visuelle Elemente zu betrachten, sondern handwerkliche Arbeitsprozesse und die Materialauswahl miteinzubeziehen. In diesem Zuge muss auch eine plurale Autorenschaft akzeptiert werden und die Fokussierung auf psychologisierende Analysen noch weiter eingeschränkt werden. In gleichem Maße muss das Sehen wieder mehr trainiert werden. Gemeint ist dabei aber nicht nur die passive Werkbetrachtung, sondern vor allem das aktive Erkennen, das beispielsweise beim Zeichnen der Objekte gefördert wird.
Summa summarum muss das theorielastige Kunstgeschichtsstudium einen höheren Praxisanteil erhalten, woraus sich neues methodisches Werkzeug entwickelt. Dass im Allgemeinen gewisse Missstände im Fach der Kunstgeschichte bestehen, zeigten auch andere Bereiche, wie bspw. das Forum Museen, in dem beklagt wurde, dass nur noch wenige Studierende während ihrer Ausbildung in Form von Praktika den Weg ins Museum gehen oder Online-Datenbanken neue Methoden entwickeln müssen, um eben auch Objekte, die nicht zweidimensionale Bilder sind, angemessen visualisieren zu können.
Die Art und Weise wie wir sehen, hängt von Erfahrungen ab, die wir durch Versprachlichung erst verstehen. Es gilt also durch erweiterte Praktiken Sprache und Sehen neu zu verknüpfen und so das kunsthistorische Studium zu reformieren, um in Zukunft auch die fehlenden 80% der kunsthistorischen Bestände angemessen betrachten zu können.