„Ein Toter und zwei Schatten – das ist das Werk der Kälte“. Diese Worte, ausgesprochen am Ende des vierten Aktes, sind das Programm des Stückes. Der Tote ist John Gabriel Borkman und die Schatten sind die beiden Frauen, deren Leben er ruiniert hat. Gerade diesen vierten Akt hat die renommierte Regisseurin Andrea Breth, ausgezeichnet mit vielen Preisen, jedoch gestrichen. Auch das ist Programm - ein Gegenprogramm. Der Tod des Protagonisten John Gabriel Borkman würde nicht ins Programm passen. Andrea Breth lässt ihn, bis zum Ende des dritten Aktes, bis zum Ende ihrer Inszenierung, im Fegefeuer eines infernalischen Ehekriegs schmoren. Den Tod, als eine Art Erlösung, enthält sie ihm vor, auch die Versöhnung, die Ibsen am Ende des vierten Aktes vorgesehen hat: zwischen den beiden sich bekriegenden Zwillingsschwestern Gunhild Borkman und der unverheirateten Ella Rentheim, auch wenn sie nur noch „Schatten“ sind. Dass Ella unverheiratet blieb, ist das Ergebnis einer Intrige Borkmans: er wollte sie, seine ehemalige Geliebte, an einen Geschäftspartner verschachern, dem sie sich allerdings verweigert. So heiratete er deren Schwester, die er nicht liebte und zerstörte auf diese Weise zwei Lieben und zwei Leben. Übrig bleiben ein Toter und zwei Schatten. So ähnlich könnte sich Sartre die Hölle vorgestellt haben. Mit Boulevardtheater hat dies offensichtlich nichts zu tun.
In der Hölle der Bourgeoisie
Ibsens „John Gabriel Borkman“ am Schauspiel Frankfurt
Bild: CC-PD-Mark (Wikimedia Commons)
"Innenlebens der Bourgeoise als Danteskes Inferno"
Die Aufführung am Frankfurter Schauspiel ist sehr unterschiedlich beurteilt worden. Es gab geradezu hymnischen Beifall (FAZ, Neue Zürcher) und schonungslose Kritik: „lachhaft“, „schwer auszuhalten“ (FR), die Figuren entglitten der Regisseurin „zunehmend ins Lächerliche“ (SZ). Aber auch die Lobpreisungen blieben nicht ohne Stachel. Die Hauptdarstellerin (Corinna Kirchhoff als Gunhild Borkmann): habe ihr „Gold des hohen Tons heruntergewechselt ins Kleingeld eines Emotionskrawalls, mit dem sie in jeder Trash-Talkshow ein gern gesehener Gast wäre“ (Die Welt). Ohne Zweifel, direkt oder indirekt haben fast alles Kritiker registriert, dass Ibsens Drama stellenweise in die Groteske, ja ins Boulevardtheater umzuschlagen drohte. In dieser Weise hat man bekanntlich – und das ist entscheidender als die Frage, ob man den letzten Akt hätte weglassen können oder nicht – Ibsen um 1900 häufig inszeniert. Der Grund dafür war, dass man die ätzende Gesellschaftskritik Ibsens, seine Schilderung des Innenlebens der Bourgeoise als Danteskes Inferno auf diese Weise ein Stück weit zu neutralisieren suchte. In einer Inszenierung an der Berliner Volksbühne hat man 2012 diese Lesart auf die Spitze getrieben: John Gabriel Borkman als grotesk-obszönes Spektakel.
"Gefangen in den Illusionen und Vorurteilen ihrer sozialen Schicht"
Will man die Boulevardisierung Ibsens nicht einfach als Gedankenlosigkeit oder Unfähigkeit der Regisseure oder Regisseurinnen abtun, dann stößt man auf ein konzeptionelles, ein poetologisches Problem der Ibsenschen Stücke. Zweifellos sind viele seiner Figuren oberflächlich gesehen, hysterisch, grotesk, zuweilen lächerlich: Gunhild mit ihrer Obsession, ihr Sohn könne dereinst die „Schmach“ der Familie Borkmann tilgen (wozu dieser neudeutsch gesagt, nicht den geringsten Bock hat), Borkman (Wolfgang Michael als grantelnder, larmoyanter „Ausnahmemensch“) mit seinem Wahn, die Bank, sogar die Kunden, die er einst ruinierte, würden wieder vor ihm zu Kreuze kriechen, Hedda Gabler, die aus Dünkel und Langeweile nach Macht über andere giert und einen grotesken Selbstmord auslöst, Hjalmar Ekdal („Die Wildente“), der seine kranke Tochter in den Tod treibt, weil er nicht verwinden kann, dass sie möglicherweise nicht seine leibliche Tochter ist und von ihr ein „Opfer“ erwartet. Auch Ekdal möchte die „Schmach“ seiner Familie durch die phantasmatische „große Erfindung“ wieder abwaschen.
Doch dies ist nur die Oberfläche. Gunhild und John Gabriel Borkman sind, wie fast alle Ibsenschen Protagonisten, gefangen in den Illusionen und Vorurteilen ihrer sozialen Schicht. Ibsen zeigt, dass die Phantasmen der Klein – und Mittelbourgeosie seiner Zeit an der gesellschaftlichen Realität scheitern. Die Borkmans werden darüber zu Besessenen. Nach seinem Bankrott träumt der selbsternannte „Übermensch“ Borkman davon, ein kapitalistisches Imperium („Bergwerke… Handelstraßen … Schifffahrtslinien“) zu errichten. Niemand interessiert sich indes für seine Spinnereien und so kämpft er stattdessen gegen seine Ehefrau, die er ebenso wie seinen ehemaligen Geschäftspartner für seinen Ruin verantwortlich macht. Er ahnt nicht einmal, dass er von Imperien träumt, die ihn und seinesgleichen obsolet machen. Allenfalls seine kriminelle Energie wäre für sie noch von Nutzen. Für Gunhild ist er eigentlich schon tot und um sein Grabmal will sie eine Hecke pflanzen, damit niemand es sehen kann. Für ihre ungestillten Rachgelüste verfolgt sie nur noch ein Ziel in ihrem Leben: ihr Sohn Erhart soll den Namen Borkman wieder erglänzen und den Namen ihres Mannes vergessen lassen. Gunhilds und Borkmans wechselseitiger Hass kommt äußerlich dadurch Ausdruck, dass sie seit acht Jahren im selben Haus auf zwei verschiedenen Stockwerken leben, ohne sich je zu sehen. Nur seine Schritte hört sie, die Schritte eines „kranken Wolfes“.
"Die Darsteller sind nicht zu kritisieren"
Gunhild und John Borkmann sind Rasende, vergleichbar den Gestalten der griechischen Tragödie und wie diese zum Untergang verdammt. Was Gunhild Borkmann von Klytaimnestra und Medea allerdings unterscheidet, ist ihre Inkonsequenz und ihre Unfähigkeit, ihre Wut in Taten umzusetzen: Klytaimnestras Doppelaxt oder Medeas todbringendes Gewand stehen ihr nicht zur Verfügung: sie rettet sich in eine „Lebenslüge“ (wie es Relling in der „Wildente“ formuliert). Von Klytaimnestra heißt es: „Gleich dem Raben, An der Leiche, krächzend tönt dein Gesang. Weh ich hör’s - Rachelieds verwünschten Ton“. Gunhild bringt es nur zu hysterischem Gezeter. Auch Borkmann ist nur zu einem betrügerischen Bankrott fähig, er vermag anschließend, ähnlich wie seine Ehefrau, nur noch über die böse Welt zu jammern, die sich gegen ihn verschworen hat. Das macht beide Protagonisten nicht lächerlich, sondern zu tragischen Figuren einer bürgerlichen Welt, Nach dem Ende der großen klassischen und bürgerlichen Tragödien sind sie die „Helden“ einer sich selbst zerstörenden und auflösenden bürgerlichen Welt, die spätestens 1918 perdu war und an deren bisherigen Ende Globalisierung, Big Data, und eine Handvoll Großbanken stehen. Ibsens Helden sind die stummen Propheten des untergehenden Bürgertums, ästhetische Chiffren ihres Zerfalls. Auch dass Borkmann Liebe gegen Geld tauscht, gehört in diesen Zusammenhang: der Topos zielt auf den unaufhaltsamen Prozess der Verwandlung aller Werte in Tauschwerte. Kälte, nicht Hysterie ist die eigentliche Atmosphäre des Stücks, wie es Ibsen auch selbst notiert hat. Dies lässt sich dem Stück auch nicht nachträglich aufpfropfen, in dem man den Text des vierten Aktes streicht und stattdessen die drei zentralen Figuren in grotesken Verrenkungen im Eis zeigt. Nicht zu Unrecht hat man diesen Schluss des Stückes als „Kunstgewerbe“ kritisiert.
Dass einige dieser Banken – um die es in dem Stück unter anderem geht - direkt vor der Tür des Schauspielhauses stehen, wäre immerhin eines Hinweise durch Andrea Breth würdig gewesen. Dass Breth auf jegliche Aktualisierung verzichtet, lässt den Verdacht aufkommen, dass sie Ibsens Stück ausschließlich als historisches Gesellschaftsdrama des ausgehenden 19. Jahrhunderts versteht. Damit negiert sie die radikale gesellschaftskritische Intention Ibsens, der sich selbst als „Revolutionär“ verstand. Es wäre nicht um den Hinweis gegangen, dass es auch heute noch betrügerische Bankiers gibt (was bekanntermaßen der Fall ist), sondern darum, dass man das Stück nicht nur nach dem Buchstaben, sondern auch im Geist seines Autors „werkgetreu“ hätte inszenierten können. Dass die meisten Banken heute nicht mehr, wie bei Borkmann Bankrott gehen, sondern als „systemrelevant“ gerettet werden, wäre ein möglicher Hinweis gewesen.
Die Darsteller sind nicht zu kritisieren, sie leisten – im engen Rahmen dessen, was die Inszenierung ihnen vorgibt – Außergewöhnliches. Die Jammergestalten, auf die Andrea Breth sie festlegt, spielen sie mit Bravour. Wie wohl sie sich in dieser Rolle fühlten, steht auf einem anderen Blatt. Sie müssen sich zudem noch mit einem weiteren Regieproblem herumschlagen. Ibsens Figuren sind Menschen in den „Sechzigern“ (Ibsens Regieanweisung für Borkman, Gunhild ist eine „ältere, kalt und vornehm aussehende Dame“). Die Darsteller der Aufführung sind zwanzig Jahre jünger (mit Ausnahme von Elle Rentheim, überzeugend gespielt von Josefin Platt). Damit geht eine weitere Pointe des Stückes verloren: Ibsens Protagonisten sind betagte, „ergraute“ Menschen, die sich wegen Ereignissen, die weit zurück in ihrer Jugend liegen, bis aufs Blut bekämpfen. Sie sind – auch in dieser Hinsicht - nur noch „Schatten“ ihrer selbst. Auch darin kann man eine Metapher von Ibsens Schwanengesang auf das Bürgertum sehen.