L.I.S.A.: Herr Professor Walter, Ihrem Blog „Antike und Abendland“ haben Sie sinngemäß vorangeschrieben: der Versuch, Spuren der Antike in unserem heutigen Selbstverständnis, in unserer modernen Identität als Europäer aufzuspüren. Könnten Sie das genauer erläutern, möglicherweise an einem Beispiel?
Prof. Dr. Walter: Nun, ich halte es mit denen, die der Ansicht sind, Europa sei nicht in erster Linie geographisch definierbar, auch nicht religiös oder mit anderen, greifbaren Parametern. Europa ist deswegen so wie es ist, weil es sich immer wieder mit Rückgriff auf seine Vergangenheit neu erfunden hat. Beginnend, sagen wir, mit der karolingischen Renaissance oder dem Renaissancehumanismus in Italien, hin zum Klassizismus in Frankreich, zum Neuhumanismus im 19. Jahrhundert, der Griechenland-Sehnsucht zumal der gebildeten Deutschen. Oder im klassischen Republikanismus, der in der frühen Geschichte der USA eine so große Rolle gespielt hat. Die Antike hat in diesen Phasen von Neudefinition und Selbstkonstituierung immer eine ganz zentrale Rolle gespielt. Übrigens auch in der Absetzung, als z.B. im 18. Jahrhundert englische und schottische Philosophen der Meinung waren, die Antike könne kein Vorbild mehr sein, weil sie zu viel Wert auf Ehre und Krieg gelegt habe, während man nunmehr den Akzent auf Handel und Wohlstand setzen müsse.
Die Antike ist heute sicher schon lange keine Wegweiserin für die Gegenwart mehr, sondern eher eine Art kritische Instanz. Wenn wir uns beispielsweise einmal anschauen, wie in unseren modernen, repräsentativen Demokratien das Politische funktioniert, dann ist es natürlich unsinnig zu sagen: Wir müssen jetzt zurück zu antiken Modellen. Diese waren an Voraussetzungen gebunden, die gar nicht mehr existent und auch nicht wiederherstellbar sind. Wir können aber aus diesem Rückblick eine Art kritischen Blick auf unsere eigene Gegenwart gewinnen. Beispielsweise die mangelnde Intensität des Politischen, die in antiken Stadtstaaten eben ganz anders war.
Der Titel „Antike und Abendland“ besteht im Wesentlichen eben wegen dieses permanenten Rückgriffs und dieses letztlich unzerschneidbaren, allenfalls vergeßbaren Bandes, und da die verschiedenen Epochen des europäischen Abendlandes immer wieder auf die Antike zurückgeworfen werden. Gleichzeitig ist der Titel ein bißchen ironisch, weil „Abendland“ natürlich ein ideologisch besetzter Kampfbegriff gewesen ist, vor allen Dingen in der Zeit nach 1945. Das christliche Abendland wurde als Bollwerk gegen den Bolschewismus in Stellung gebracht, was auch manchen alten Nazis ermöglicht hat, sich unter dem Signum des Humanismus und des Anti-Kommunismus wieder in die demokratische Nachkriegsordnung einzufädeln. Den Titel habe ich dann auch einmal im Blog kurz erklärt.
Im „Alltag“ des Blogs geht es natürlich nur selten um die „großen Fragen“, sondern meist um institutionelle Voraussetzungen und Emanationen einer Rezeption der Antike im weitesten Sinn: Lateinunterricht, Bücher und Gelehrte, Ausstellungen und Ausgrabungen, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, Antike im Kino und TV. Neulich habe ich an einen Artikel Theodor Mommsens aus dem Jahr 1878 erinnert, in dem der größte Althistoriker des 19. Jahrhunderts den Schlendrian mit externen Promotionen anprangert, als viele Leute von Ghostwritern verfasste Dissertationen einreichten und damit promoviert wurden, ohne je eine einzige Lehrveranstaltung an der betreffenden Universität besucht zu haben. Den Prüfer lernten Sie beim Rigorosum kennen. Oder ein anderer Eintrag: Als die Thesen und das Buch von Amy Chua Anfang 2011 auch hierzulande diskutiert zu werden begannen, las ich zufällig in einer Lektüreübung mit Studierenden Passagen aus Aristoteles' Politik, die sich mit den Ansichten der chinesisch-amerikanischen Tiger-Mom in einen erhellenden Zusammenhang bringen ließen.
L.I.S.A.: Sie gehören zu den wenigen an einer Universität lehrenden Geisteswissenschaftlern, die öffentlich bloggen. Wie kam es dazu? Welche Gründe haben Sie bewogen, öffentlich und journalistisch über antike Geschichte zu schreiben? Passt das überhaupt zusammen?
Prof. Dr. Walter: Das ging nicht von mir aus. Ich schreibe seit 1998 gelegentlich für die FAZ, meist Rezensionen und Personenartikel, früher auch Ausstellungsberichte. 2008 fragte der Feuilletonchef an, ob ich mir vorstellen könnte, einen Blog zu übernehmen. Das war von der Zeitung her der Versuch, mit der Zeit zu gehen und vielleicht auch Menschen an sich zu binden, die nicht regelmäßig Zeitung lesen. Zugleich sollte das Blatt dadurch geöffnet werden, ohne an intellektuellem Profil zu verlieren. Ich konnte mir das zunächst gar nicht vorstellen und habe auf weiteres Drängen hin und mit großen Zweifeln drei, vier Probestücke geschrieben und eingestellt. Das war im Januar 2009. Dann gab es immer genug Stoff, weiterzuschreiben.
Ich betrachte mich übrigens keineswegs als Blogger, kenne die entsprechende Szene und ihre Strukturen auch gar nicht und weiß nicht einmal, wie ein ‘typischer’ Blog aussieht (wenn es den überhaupt gibt). „Antike und Abendland“ ist eher so etwas wie eine regelmäßige Kolumne, zugleich ein Container, in den sehr verschiedene Inhalte hineinpassen. Ich kann hier alles aus dem Bereich der antiken Kultur im weitesten Sinne aufgreifen, was meiner Ansicht nach wert ist, in unserer Zeit mitgeteilt, erinnert, kommentiert und in Zusammenhänge eingeordnet zu werden – ohne redaktionelle Streichungen, wie sie im Blatt unvermeidlich sind, und nach eigener zeitlicher Disposition. Wie alle guten Zeitungen mußte auch die FAZ zuletzt aus Kostengründen ihren Umfang reduzieren; dadurch kann man seltener längere Artikel ins Blatt bringen. Im Blog bin ich da ganz frei. Die Texte müssen auch nicht immer so geschliffen und zugespitzt sein wie ein Artikel im Blatt; man kann auch einfach nur berichten oder längere Zitate einflechten, auch auf Englisch.
Öffentlich über antike Geschichte, über die griechisch-römische Antike und ihre Aktualisierungen überhaupt zu schreiben finde ich ganz selbstverständlich. Einer meiner akademischen Lehrer hat immer gesagt, der Historiker wende sich mit seinem Tun selbstverständlich an die ganze Gesellschaft. Althistoriker hatten es da lange Zeit nicht schwer, da sie auf ein gewisses Interesse und bestimmte Bildungsvoraussetzungen setzen konnten, und viele von ihnen haben die Aufgabe, ihr Wissen und ihre Auffassungen in strittigen Fragen auch an ein größeres Publikum zu vermitteln, sehr ernst genommen, Vorträge gehalten, in Zeitungen publiziert – bis heute. Und eine solche Kolumne stellt nun eben im Zeitalter des Internets eine Chance dar, vieles ins Gedächtnis der Leser zu bringen, was sonst vielleicht verlorenginge. Wissen um und Interesse für die Antike sind ja verbreiteter, als ein Pessimist vermuten mag, aber es bedarf der regelmäßigen Ansprache. Ich vermute, die meisten Leser meines Blogs können pro Jahr allenfalls zwei, drei Bücher zur Antike lesen; ich selbst könnte allenfalls ein Buch alle paar Jahre schreiben und damit auch nur ein sehr schmales Stück an Anregungen und Einsichten anbieten. Damit läßt sich aber von beiden Seiten kein kognitives Netz spannen, das bei den Lesern mit der Zeit eine gewisse Vertrautheit und Gestimmtheit schafft. Um das zu unterstützen, gibt es auch bisweilen mehrere Einträge über einen längeren Zeitraum zu einem bestimmten Thema, eine Art story line. Mittlerweile kann ich ganz ungezwungen auf ältere Texte verweisen.
Journalistisch zu schreiben? Das würde ich nicht in Anspruch nehmen. Ich habe ja keine journalistische Ausbildung, kenne den entsprechenden Betrieb nur als Leser. Die für einen Journalisten gewiß notwendigen Operationen – Personalisierung, Vereinfachung, Zuspitzung bis hin zur Skandalisierung sowie Aktualisierung und das Setzen von Themen – beherrsche ich auch gar nicht.
L.I.S.A.: Welche Erfahrungen machen Sie mit Ihrem Blog? Wie fallen die Reaktionen bzw. Kommentare aus? Sind Sie mit der Resonanz zufrieden?
Prof. Dr. Walter: Die Anzahl der Aufrufe jedes Eintrags liegt meist im unteren, bisweilen und nach längerer Zeit auch mal im oberen vierstelligen Bereich. Das ist sicher wenig und rangiert im Vergleich zu den anderen FAZ-Blogs, die zu jedem Eintrag ein Vielfaches an Klicks und mehrere hundert Zuschriften erhalten, unter ‘ferner liefen’. Aber wird die althistorische Rezension auf Seite zwei des Feuilletons unter der Woche von mehr Lesern zur Kenntnis genommen? Wenn Web-Nutzer neu auf den Blog stoßen, sehen sie oft auch ältere Einträge an.
Mit den Reaktionen ist das so eine Sache. Ganz Blogger-untypisch pflege ich, offen gesagt, keine nennenswerte Kommunikation mit den Lesern. Zum einen, weil das sehr viel Zeit erforderte, die ich nicht habe. Zum anderen aber auch, weil die meisten Kommentare von einer sehr kleinen Zahl von regelmäßigen Lesern kommen, die – vorsichtig formuliert – eine sehr spezielle Weltsicht haben und diese auch bei jeder Gelegenheit großzügig mitteilen, in Suaden, die bisweilen länger als mein Eintrag sind. Und es verwundert mich immer wieder, wenn mein Eintrag einem Leser nur den Anlaß bietet, sich zu ärgern und allen, die das vielleicht gar nicht wissen wollen, diesen Unmut mitzuteilen und gleich dazu auch noch die ganze Welt zu erklären. Da beneide ich meine Kollegin Mary Beard in Cambridge, die mit ihrem TLS-Blog zahlreiche knappe, präzise, oft auch witzige oder weiterführende Zuschriften auslöst, die eine echte Bereicherung darstellen.
Wenn etwas richtigzustellen ist, reagiere ich selbstverständlich auf Kommentare. Aber, wie gesagt, der Blog ist eher als Kolumne gedacht, als Anregung. Auf Umwegen höre ich hier und da, daß das Angebotene durchaus geschätzt wird, ohne daß das Bedürfnis besteht, in lange altercationes einzutreten. Und profund diskutieren kann man von Angesicht zu Angesicht ohnehin besser. Da bin ich ganz altmodisch.
L.I.S.A.: Sie führen einen wissenschaftlichen Weblog, der weit überwiegende Teil der Online-Nutzer wendet sich aber immer stärker sozialen Netzwerken, wie zum Beispiel Facebook, zu. Halten Sie es für sinnvoll, auch dort als Wissenschaftler präsent zu sein? Anders gefragt: Muss sich die Wissenschaft den neuen Kommunikationsformen anpassen, um sich überhaupt noch Gehör zu verschaffen?
Prof. Dr. Walter: Erstens sehe ich mich, um das klarzustellen, als einen Wissenschaftler, der einen themenbezogenen Weblog führt. Das ist kein „wissenschaftlicher Weblog“: Texte in einem solchen müßten prinzipiell die gleiche Qualität haben wie Beiträge zu einem Fachjournal o.ä., zumindest was Sachkenntnis und Eigenständigkeit angeht. In meinem Blog dagegen spielen die Mitteilung und ein erster Eindruck, spielt der Verweis eine viel größere Rolle, ergänzt um Einschätzungen durch Andere, ist es dem Web-Kolumnisten doch gestattet, vieles interessant und im Wortsinn bemerkenswert zu finden, ohne zu allem eine fachlich fundierte eigene Ansicht haben zu können und zu müssen oder sich eine solche erarbeiten zu können.
Facebook: Ein klares Nein! Wissenschaftliche Fragen haben ihre eigene Komplexität, Dignität und auch Langsamkeit; sie können im Blog-Format als solche vorgestellt und andiskutiert werden, aber nicht mehr. Sie vertragen es auch nicht, personalisiert und zur Dauerberieselung zu werden. Auch Geisteswissenschaftler müssen sich trauen, einmal ‘bis hierher und nicht weiter’ zu rufen. Wir haben es mit schwierigen Sachverhalten zu tun, die auch nicht um jeden Preis ‘Gehör’ brauchen, sondern zuallererst Zeit, Belesenheit und Differenzierung. Power Point hat schon genug intellektuelle Verwüstung angerichtet. Gestylte Selbstvermarktung in irgendwelchen Science-Portalen, der tägliche Platon-Satz für eilige Manager auf Twitter oder der Wissenschaftler, der via Facebook alles von sich preisgäbe, das bedeutet im Grunde Prostitution. Oder um ein weniger drastisches Bild zu bemühen: Das wäre wie eine Dönerbude mit Sportübertragung im Bamberger Dom am Sonntagvormittag, um mehr Leute ins Haus zu bekommen. Ich mag Döner und gelegentlich auch Sportübertragungen. Aber nicht im Dom. – Im übrigen habe ich den Eindruck, daß es in den Disziplinen, die ich ein wenig kenne, auch ohne Facebook sehr gut funktionierende ‘soziale Netzwerke’ gibt, in denen diskret, aber wirkungsvoll Chancen und Ressourcen zugeteilt werden. Hier besteht eher Ab- als Nachrüstungsbedarf.
L.I.S.A:: Glauben Sie, dass der Einsatz neuer Medien, seien es Weblogs, interaktive Portale oder soziale Netzwerke, die Wissenschaft, insbesondere die Geisteswissenschaften verändern werden?
Prof. Dr. Walter: Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Und als tendenziell kulturkritisch eingestellter Realist kann ich angesichts der atemberaubenden Entwicklung in diesem Sektor allein in den letzten dreißig Jahre nichts ausschließen. Wenn neue Medien die sachhaltige und sachangemessene Diskussion unter Wissenschaftlern, den Austausch von Forschungsergebnissen und Argumenten erleichtern und etwa helfen, diesen unsinnig angeschwollenen Tagungstourismus drastisch zu reduzieren, ohne Kommunikationschancen zu nehmen, würde ich das sehr begrüßen. Ansonsten: Antwort 4.
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wir haben uns den Beitrag angeschaut. Im Sinne eines Austausches und einer Klärung der unterschiedlichen Ansichten zu einem noch sehr offenen Thema wie dem Nutzen digitaler Medien für die Wissenschaft halten wir es für sinnvoll, Interviews mit Vertretern unterschiedlicher Positionen zu führen. Wir erhoffen uns davon eine lebendige Diskussion und neue Einsichten.
Viele Grüße
Georgios Chatzoudis (L.I.S.A.Redaktion)
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wir nehmen Ihre Anregung gerne auf. Hätten Sie Zeit und Lust, uns ein Interview zum Thema Wissenschaftsblogging zu geben?
Viele Grüße
Georgios Chatzoudis (L.I.S.A.Redaktion)
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und: ich kenne sonst kaum geisteswissenschaftler, die bloggen, sie herr dr. graf?
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http://archiv.twoday.net/stories/38736940/
Wieso wird nicht mal ein wirklicher Wissenschaftsblogger interviewt?