Forscher und politische Beobachter waren sich lange darin einig, dass das Phänomen "Nationalismus" in Europa der Geschichte angehört. Bis in die 1980er Jahre galt die Überzeugung, Nationen würden sich in übernationale gesellschaftliche Einheiten nach und nach auflösen - alles eine Frage der Zeit und der integrationspolitischen Schritte auf dem Weg zu einem vereinten Europa. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende ihrer Vorherrschaft über den östlichen Teil des europäischen Kontinents setzte aber eine Entwicklung ein, die so nicht erwartet wurde: der Aufstieg eines neuen Nationalismus, das (Wieder-)Entstehen neuer bzw. alter Nationalstaaten und die Rückkehr eines Denkens in nationalistischen Kategorien, das aktuell in einem Erstarken rechtskonservativer und völkischer Parteien kulminiert. Der Historiker Prof. Dr. Peter Alter gehört mit zahlreichen Publikationen zu den renommiertesten Nationalismusforschern Deutschlands. Nun hat er einen Band aufgelegt, in dem er gegenwärtige nationalistische Strömungen aufgreift und diese in eine historische Perspektive einbettet. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Man meinte in den 1980er Jahren, die Europäer lebten in einem postnationalen Zeitalter"
L.I.S.A.: Herr Professor Alter, Sie haben wieder ein Buch zum Nationalismus geschrieben. Dieses Mal mit einem besonderen Augenmerk auf Europa. Warum haben Sie sich wieder des Themas Nationalismus angenommen? Was unterscheidet es von Ihrem früheren Nationalismus-Buch?
Prof. Alter: Ich habe mein altes Thema Nationalismus eigentlich aus zwei Gründen wieder aufgegriffen. Zum einen, weil wir hier bei uns in Europa einen neuen Nationalismus erleben, der in manchen Ländern mittlerweile beunruhigende Dimensionen annimmt. Da scheint es mir geboten, über den Nationalismus und seine historischen Erscheinungsformen seit der Französischen Revolution aufzuklären. In den Jahren nach 1945 nahm man ja weithin an, das Kapitel Nationalismus und nationalistische Politik sei in Europa endgültig abgeschlossen. Das war offensichtlich ein Irrtum, wie sich sei dem ausgehenden 20. Jahrhundert immer deutlicher herausstellt. Der verstorbene Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher war übrigens einer der ersten, der vor der Renaissance des Nationalismus und den Gefahren nationalistischen Denkens in Europa eindringlich warnte.
Zum anderen knüpft der neue Nationalismus in Europa heute wieder an Formen an, die seit dem späten 19. Jahrhundert in Europa und anderswo verheerende Auswirkungen hatten. Der französische Staatspräsident François Mitterand hatte die Erfahrungen der Europäer mit dem Nationalismus bekanntlich einmal auf die Formel gebracht: „Nationalismus – das bedeutet Krieg“. Als ich Anfang der 1980er Jahre über Nationalismus schrieb, war von dieser Gefahr nicht die Rede, denn, so meinte man, die Europäer lebten in einem postnationalen Zeitalter. Die heutige Geschichtsvergessenheit vieler Europäer, aber vor allem der leichtfertige und gedankenlose Umgang mancher Politiker am rechten Rand des politischen Spektrums mit nationalistischer Rhetorik ist geradezu atemberaubend. Sie haben kein Gespür dafür, was sie mit ihrem Schwadronieren über „nationale Interessen“ anrichten.