L.I.S.A.: Nach seiner für ihn tragisch beendeten Kanzlerschaft war es still um Helmut Schmidt geworden. Erst im Laufe der 1990er und dann insbesondere nach der Jahrtausendwende kehrte Helmut Schmidt vermehrt auf die öffentliche Bühne zurück - nun in der Rolle des weisen, in der Öffentlichkeit sehr beliebten und über alle politischen Parteien hinweg geschätzten Elder Statesman - anders als sein Nachfolger Helmut Kohl. Wie schätzen Sie für diesen Zeitraum Helmut Schmidts politischen bzw. öffentlichen Einfluss ein?
Prof. Spohr: Seit dem Ende seiner Kanzlerschaft 1982 war Schmidt als politischer Kommentator außer Konkurrenz - intellektuell seinen Vorgängern und auch Nachfolgern eindeutig überlegen; und auch in seiner Rolle als Altkanzler war Schmidt eine Liga für sich.
Man muss aber bedenken, dass ein Elder Statesman eben kein Politiker im Amt mehr ist - egal wie die Leute an jedem seiner Worte hängen und ihn bewundern. Und ein Elder Statesman ist vor allem frei von jeglicher direkter Verantwortung im politischen Tagesgeschäft, und kann somit recht sorglos seine persönlichen Meinungen äußern.
Nicht jeder Altkanzler äußert sich zu politischen Fragen der Gegenwart. Schmidt allerdings hat viel zum Zeitgeschehen und zur Weltpolitik der 1990er und 2000er Jahre gesagt und geschrieben - Bestseller-Bücher und unzählige Essays. Kohl wiederum hat sich darauf konzentriert, seine Erinnerungen in mehreren Versionen zu verfassen, vor allem mit Fokus auf die Ereignisse des annus mirabilis 1989/90.
Man darf nicht vergessen, dass Helmut Schmidt durch und durch ein Denker war. Seit dem Beginn seiner politischen Karriere hatte er immer geschrieben - Kolumnen in der lokalen Hamburger Bergedorfer Zeitung, Reden, Aufsätze, Bücher.
Nach der Ära Kohl hat er ganz bewusst die Rolle des Politiker-Intellektuellen als Elder Statesman eingenommen. Schmidt hatte seitdem eine Monopolstellung im öffentlichen Bewusstsein und einen Nimbus in Deutschland vergleichbar mit dem Nimbus Kissingers in den Vereinigten Staaten.
Schmidt war alles andere als provinziell. Er formulierte seine Gedanken in der Öffentlichkeit mit der Autorität eines weitblickenden, richtungsweisenden Altkanzlers, der die Globalisierung verstand und erklären konnte und dessen Urteil die Bevölkerung vertraute.
Schmidt profitierte übrigens von einer anderen Besonderheit. Er saß direkt am Hebel der Massenmedien durch seine Tätigkeit als Herausgeber bei der Wochenzeitung Die Zeit . Er hatte also nicht nur die Kontakte und Netzwerke, die er während seiner politischen Karriere geknüpft hatte, sondern zugleich den direkten Zugang zu den Kanälen, um "außer Dienst" die politischen Eliten und die deutsche Bevölkerung zu erreichen.
Und so konnte er zweifelsohne Woche für Woche Einfluss auf die deutsche Meinungsbildung nehmen. Schmidt verstand dies gewiss und genoss es auch, diesen Einfluss gezielt auszuüben und das Weltgeschehen und die Politik immer wieder von neuem zu betrachten, zu beleuchten und öffentlich zu analysieren - sei es zu Fragen der Eurokrise, China, Amerika oder Russland.
Helmut Schmidt war, so könnte man sagen, ein Polit-Celebrity - aber eben einer mit moralischer Autorität. Schmidt war ein Mann des Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes, der in die Rolle des Elder Statesman über dreißig Jahre hineingewachsen war. Und diese Rolle wusste er auch geschickt auszuspielen, und das meine ich jetzt ganz positiv.
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