Mit dem Motto „Zu den Dingen!“ unternahm der diesjährige XXXV. Kunsthistorikertag, der vom 26. bis 31. März 2019 an der Georg-August-Universität Göttingen stattfand, den Versuch, die Objektwissenschaft stärker in den Fokus der Kunstgeschichte zu rücken und generell zu eruieren, was überhaupt ein Objekt ist. Der Appell im Kongresstitel lud aber ebenso dazu ein – das wurde insbesondere durch Diskussionen in den Foren deutlich – zu erörtern, welche Qualifikationen ein_e Kunsthistoriker_in heute in seinem_ihrem Berufsbereich braucht und wo sich bereits in der Ausbildung Schwachstellen verbergen. Zu den Dingen also – jetzt wird Tacheles geredet!
Von der Relevanz der Kunstgeschichte
Es brauche Expert_innen! Darüber waren sich alle einig. An der Notwendigkeit von Kunsthistoriker_innen zweifelte hingegen – Gott sei Dank – niemand. Um richtig hinzusehen, Sachverhalte zu erläutern und Zusammenhänge aufzudecken, für all dies und noch vieles mehr werden Kunsthistoriker_innen zu Rate gezogen. Ihre Methoden und ihr Spezialwissen brauche es, wenn Objektfragen geklärt werden sollen, was in Fällen von Provenienzrecherchen und Restitutionen auch im öffentlichen Interesse ist. Aufgrund der zunehmenden Verwendung von Transpondern, wisse man sonst irgendwann nicht mehr, was ein Schlüssel sei, skizzierte Rüdiger Juppin in seinem Vortrag überspitzt die Unverzichtbarkeit von Kunsthistoriker_innen. Gleichzeitig bedauerte er, dass die Angewandte Kunst oftmals keinen oder nur einen rudimentären Bestandteil des studentischen Curriculums darstelle. Aber nicht nur die Angewandten Künste, so oftmals der Konsens, auch die allgemeinen Kenntnisse in Bezug auf die sogenannten Schönen Künste ließen bei den Studierenden von heute oftmals zu wünschen übrig. Es lasse sich eine zunehmende Entfremdung zu den eigentlichen Studieninhalten, nämlich den Objekten, feststellen, welche in Zeiten von Digitalität und PowerPoint bereits in der universitären Ausbildung angelegt sei. Und so fragte Harmut Dogerloh in seiner Eröffnungsrede treffenderweise, wann das Auditorium zuletzt ein Kunstwerk in den Händen hielt. Können die heutigen Studierenden also überhaupt zu den so gepriesenen Expert_innen heranreifen und werden sie in ihrem Studium bestmöglich auf ihr späteres Berufsleben vorbereitet? Oder hat das Fach Kunstgeschichte im Bereich des Nachwuchses etwa ein Problem, wenn man den vor Ort geführten Diskussionen seitens etablierter Wissenschaftler_innen Glauben schenken möchte?
Auch Studierende üben Kritik an der Ausbildungssituation
Zugleich wurde auch seitens der Studierendenschaft im Rahmen des Nachwuchsforums die Beschwerde laut, dass es schwer sei, mit Themen abseits des kunsthistorischen Kanons Anerkennung, aber insbesondere auch (Promotions-)Stellen zu finden. Hierbei setze das Thema des diesjährigen Kunsthistorikertages aber ein positives und eindeutiges Signal. Aufgrund der prekären Arbeits- und Forschungsbedingungen, die von einem Gros der Anwesenden des Nachwuchsforums thematisiert wurden, blieb leider die inhaltliche Auseinandersetzung mit den eigentlichen Dingen in diesem Forum auf der Strecke. Immerhin wurde es als positives Signal gewertet, dass der Verband dem Nachwuchs überhaupt eine Plattform zum gegenseitigen Austausch und zur Vernetzung anbot. Weitergehende Überlegungen, wie der wissenschaftliche Nachwuchs sich innerhalb des Verbandes besser organisieren könne, blieben allerdings aus. Mit den oben kurz skizzierten "Vorwürfen" würden wir eine stärkere Anbindung des Nachwuchses und von Studierenden in den Verband nur befürworten, um Lehre und Ausbildung der zukünftigen Generationen zu verbessern.
Was eine gute Ausbildung braucht
Vielleicht könnte sich der Nachwuchs unter besseren (Arbeits-, Lehr- und Lern-)Bedingungen dann auch endlich wieder mehr den Inhalten zuwenden, was dann wiederum der eingangs erwähnten so schlecht erscheinenden Ausbildung dienlich sein mag. Darunter fallen etwa auch bachelor- und masterübergreifende Universitätsveranstaltungen, um einen Synergieeffekt zu erwirken und die Qualität der studentischen Beiträge zu steigern, Studienkurse, um die themenspezifische Vernetzung außerhalb der eigenen Universität zu fördern, die Offenheit seitens kultureller Institutionen, um an Forschungsprojekten partizipieren zu können und Einsicht in die Depots zu erhalten, sowie ein umfassendes Verständnis künstlerischer Techniken, welche heute nicht mehr gelehrt werden, jedoch nach wie vor von Relevanz sind, wie der Vortrag von Ann-Sophie Lehmann unterstrich. Zwar bieten viele Museen und Kulturinstitutionen Praktika an, in denen genau diese Inhalte vermittelt werden sollen, jedoch sind diese meist schlecht oder gar nicht bezahlt und daher gleicht der Einwand einer Kommilitonin "Man muss sich das Kunstgeschichtsstudium auch leisten können!" zugleich einer Aufforderung zunächst diese prekären Ausbildungsbedingungen zu ändern, bevor ein solcher Vorwurf laut werden könnte.
Von und in Göttingen lernen
Wenn es also im Kunstgeschichtsstudium vor allem um die Dinge an sich gehen soll, dann wäre Göttingen vielleicht nicht der beste Standort für ein solches Vorhaben, könnte man meinen. Schließlich, so offenbarte der Direktor des Göttinger Seminars Michael Thimann mit einem Augenzwinkern "im Vertrauen" während seiner Ansprache beim Empfang, unterhalte die Stadt kein Kunstmuseum. Eigentlich denkbar schlechte Voraussetzungen für die Standortwahl eines Kunsthistorikertags mit dem Motto "Zu den Dingen!" und erst recht für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, wo doch die Auseinandersetzung mit den Objekten von elementarer Wichtigkeit ist. Dafür besitzt die Universität Göttingen circa 70 Sammlungen und Teilsammlungen, wie er im nächsten Satz herausstellte. Und diese Sammlungen erhielten während der Kongressdauer besondere Aufmerksamkeit. So wurden nicht nur themenspezifische Führungen angeboten, auch wurde am Freitagabend die Vernissage der Ausstellung "'In einem glücklichen Augenblick erfunden.' Deutsche Zeichnungen von Tischbein bis Lovis Corinth" gefeiert, die unter der mithilfe zahlreicher Göttinger Studierenden realisiert wurde. Die Göttinger Kunstsammlung bietet immer wieder eine Schnittstelle zwischen theoretischem Wissen und praktischer Anwendung. Wie deutlich wurde, werden kontinuierlich Praktika für Göttinger Kunstgeschichtsstudierende angeboten, um sämtliche Abläufe zur Organisation und Durchführung einer Ausstellung zu erproben. Aber auch die sogenannten FOLL-Projekte (Forschungsorientiertes Lehren und Lernen) stellen eindrücklich unter Beweis, wie praxisnah in Göttingen studiert werden kann. Bei diesen Projekten werden insbesondere Bachelorstudierende durch Lehrende bei eigenen kleineren Forschungsvorhaben betreut, die innerhalb eines Semesters durchgeführt werden. Neben begleitenden hochschuldidaktischen Workshops werden zum Ende eines jeden Projektzeitraums die Ergebnisse hochschulöffentlich präsentiert und können auch in eine Publikation einfließen. Auf diese Weise werden die Studierenden bereits zu einem frühen Studienzeitpunkt ermuntert, eigenen wissenschaftlichen Interessen nachzugehen sowie Forschungsschwerpunkte zu erarbeiten.
Wie sich der wissenschaftliche Nachwuchs auf dem Kunsthistorikertag einbrachte
Dass eine Hinwendung zu den Dingen ertragreich ist, zeigten eindrucksvoll die Vorträge von Nachwuchswissenschaftler_innen beim Science Slam. Bei dem zunächst gewöhnungsbedürftigen Format wurden von den Vortragenden innerhalb von fünf Minuten Objekte vorgestellt und damit verbundene Forschungsfragen in den Raum geworfen. Die Bandbreite hätte hierbei nicht größer sein können: Von Miniaturdarstellungen von Kanonen in der Villa Hügel über Treppengeländer in Form von Kraken bis hin zu Steinen als Kunstwerke. Die Vortragenden überzeugten dabei insbesondere durch ihre Fähigkeit, abstrakte Sachverhalte innerhalb kürzester Zeit pointiert auf den Punkt zu bringen und durch den einen oder anderen Gag bei Lachern im Publikum zu sorgen. Ebenso zeigten die unterschiedlichen Sektionen und Foren auf, wie weit der Ding-Begriff gefasst werden kann. So wurden insbesondere Gattungen und Medien in den Blick genommen, die sonst innerhalb des Faches ein eher klägliches "Schattendasein" führen - Perlenpreziosen, Architekturmodelle und Heimatmuseen beispielsweise - und all dies vorgestellt von Nachwuchswissenschaftler_innen. Von fehlendem Forschungsinteresse des wissenschaftlichen Nachwuchses und einer mangelnden Ausbildung war beim Science Slam und innerhalb der Foren und Sektionen nichts zu spüren. Vielleicht fehlt es dem wissenschaftlichen Nachwuchs auch nicht nur an Möglichkeiten der praktischen Forschung, sondern und das zeigte sich insbesondere in informellen Gesprächen während der Pausen - an Vernetzung innerhalb des Faches. An Förderungen, die bestärkend von universitärer, aber auch musealer und institutionaler Seite zeigen, dass es wichtig ist, genau hinzusehen, Dinge aus zunächst seltsam erscheinenden Perspektiven zu beleuchten und ein Ernstnehmen jeder guten Idee.
So unternahm Göttingen in enger Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Kunsthistoirker nicht nur den Versuch, unter dem Motto "Zu den Dingen!" eine Bandbreite verschiedener objektwissenschaftlicher Aspekte sowie die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses zur Diskussion zu bringen, sondern präsentierte sich auch als Hochschulstandort, der es sich zur Aufgabe macht, Studierenden einen bestmöglichen Mix aus theoretischem und praktischem Wissen an die Hand zu geben und ihnen auf diese Weise einen guten Berufsstart zu ermöglichen.
Last but not least
Wir bedanken uns sehr herzlich bei dem Verband Deutscher Kunsthistoriker und der Gerda Henkel Stiftung für die Möglichkeit, am Kunsthistorikertag in Göttingen teilgenommen haben zu dürfen und freuen uns sehr darüber, eine lehrreiche Zeit mit vielen spannenden Einblicken erhalten zu haben.