Der Beitrag geht an die Anfänge der Camouflage, mithin ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Das französische Verb camoufler kam zunächst als disqualifizierende Beschreibung für sich – aus der Perspektive der Polizei – geschickt ‚in Nebel’ auflösende Großstadtdiebe in Gebrauch. Dem Begriff, anfänglich auf ein Verhalten gemünzt, haftete also von Vorneherein Negatives an. An einem Bildmodus reduzierter Sichtbarkeit oder relativer Unsichtbarkeit arbeitete davon unabhängig der Maler und Hobbynaturforscher Abbott Handerson Thayer (1849-1921) in impressionistisch-figurativer Art in den 1890er Jahren bei New York. Er entdeckte dabei optische Schutz- oder Tarnprinzipien in der Natur wie das sogenannte „disruptive pattern“ und die „concealing coloration“. Sie beschreiben die optische Auflösung jener Konturen, die eine Ansammlung von Farbflecken in einer Gestalt, einem Gegenstand zusammenfassen und sie derart gegenüber ihrem Umfeld erkennbar hervorheben. Umgekehrt lässt sich eben dieser Effekt zur Tarnung einsetzen, ganz besonders ‚in den Augen’ optischer Sichtgeräte wie Teleskope. Thayer operierte formal und anwendungsbezogen, nicht gestalttheoretisch. Sein dringendes Anliegen, die Prinzipien ans US-amerikanische Militär zu verkaufen, scheiterten unter Roosevelt mehrfach und wurden erst 1917 vom britischen Militär angefragt, um schließlich in einer geometrischen, nicht der heute üblichen Flecktarnversion, auf Kriegs- und Zivilschiffen bzw. Militärgerät und noch nicht auf Uniformen Anwendung zu finden.
Der Vortrag legt die Camouflage als abstrakten optischen Modus und ihre frühe militärische Anwendung durch die ethisch-moralischen Verwerfungen und Ausschlüsse dar, die ihre Entwicklung und Rezeption charakterisieren. Das ist historisch zunächst das militärische Ethos männlicher Ehre, die kein diffuses Verschwimmen mit Hintergründen oder Landschaften zuließ, aber auch die individuelle Psychopathographie des Erfinders der Tarnprinzipien Thayer. Ein Triebmoment ihrer Entwicklung war seine zivilisationskritische Abwendung von der Großstadt New York und ein Eintauchen in die durch künstlerische Forschung gestützte Privatesoterik als Schutzvorstellung vor eben den angenommenen Übeln der Gesellschaft um 1900. Ohne dass Thayer, ein strammer Naturalist, diese Diskussion explizit geführt hätte, gibt es, kunsthistorisch gesehen, eine Überschneidung mit der um 1900 erneut geführten Ornamentdebatte, seiner bekannt vehementen Ablehnung durch Loos und seiner differenzierten Diskussion durch Worringer und Riegl – eine Geschichte von Ausschluss und Missverständnis, die die Geschichte der bildlichen Abstraktion bis heute begleitet. Dabei ist die Nähe der Camouflage als abstrakter Bildmodus zur sog. Angewandten Kunst ein weiteres Hindernis in der Diskussion von Tarnung im materiellen wie im übertragenen Sinn.
Dr. Hanne Loreck, seit 2004 Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaft und Gender Studies an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Studium von Visueller Kommunikation, Germanistik, Kunstwissenschaft und Philosophie. Freie Autorin mit Schwerpunkt individueller Praktiken zeitgenössischer Kunst, Theorien der Sichtbarkeit, des Subjekts, der Abstraktion, der Mode, 20. Jahrhundert. www. hanneloreck.de. Aktuelle Publikation zum Thema: Camouflage. Zur Kunst der Tarnung, München: Silke Schreiber Verlag 2015.