Gegründet wurde die CEU in der Euphorie des Wandels Anfang der 1990er Jahre, um die Transformationsprozesse in den sozialistischen Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks durch unabhängige Forschung und Lehre sowie eine freie wissenschaftlich-intellektuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte der Regionen und den bevorstehenden Herausforderungen zu begleiten. Wie lange dauert aus Sicht der Geschichtswissenschaft gesellschaftlicher Übergang an? In seiner historischen Zeitdimension ist sozialer Wandel nur schwer abzugrenzen. Die osteuropäischen Gesellschaften sind längst keine post-kommunistischen Übergangsgesellschaften mehr. Die Euphorie der Transformation in den einzelnen Ländern ist spätestens seit der EU-Osterweiterung den Mühen der europäischen Ebene gewichen, und so hat auch die CEU in ihrer jungen Geschichte mehrere Schübe institutioneller Selbstfindung erlebt. Ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung präsentiert sich die CEU heute für jemanden, der erst jüngst an das Historische Institut berufen wurde, als eine fest im europäischen Wissenschaftsraum etablierte, unabhängige akademische Institution mit großer internationaler Anziehungs- und Ausstrahlungskraft.
Globale Ausrichtung von Forschung und Lehre
Vergleichskulturen am Historischen Institut der CEU
Den Wandel des Historischen Instituts von einer stark auf die Regionen Mittel- Ost- und Südosteuropas konzentrierten Perspektive hin zu einer globalen Ausrichtung von Forschung und Lehre unter Einbeziehung des östlichen Mittelmeerraums haben Alfred Rieber und Constantin Iordachi in diesem Themenblock umrissen. Im Kern dieses Wandels hat sich eine bis heute das Institut prägende Kontinuitätslinie bewahrt: die Geschichtswissenschaft an der CEU verfolgt einen dezidiert vergleichenden Ansatz. Die Studierenden erwerben in den MA- und PhD-Programmen Abschlüsse in „Comparative History“, wobei es nicht das Ziel ist, die Graduierten auf eine bestimmte Methode des historischen Vergleichs festzulegen. Vielmehr soll die vergleichende Herangehensweise ein problemorientiertes Erforschen der jeweiligen Geschichtsräume aus sich selbst heraus und in ihren regionalen und globalen Verflechtungen ermöglichen, nicht zuletzt um somit einen konstruktiv-kritischen Dialog sowohl mit den Meistererzählungen der einzelnen Nationalhistoriographien als auch mit westlichen Alteritätszuschreibungen anzuregen. Dieser Ansatz stellt die Studierenden und die Professorinnen und Professoren vor drei zusammenhängende Grundherausforderungen, die sich auf einzigartige Weise in die akademische Identität des Instituts eingeschrieben haben: erstens, eine bewusst geführte Methodendiskussion; zweitens, die Vermittlung zwischen den historischen Teildisziplinen; drittens, die Begegnung unterschiedlicher akademischer Kulturen.
Um der methodischen Herausforderung Rechnung zu tragen, belegen beispielsweise die Studierenden des Instituts für Mediävistik und des Historischen Instituts im Laufe des zwei Jahre dauernden Masterprogramms gemeinsam einen Methodenkurs, der sie mit den unterschiedlichen Anwendungen des Vergleichs in der historischen Forschung vertraut macht – von den klassisch-komparativen Ansätzen in der Sozialgeschichte, über die Transfer- und Verflechtungs- bis hin zu jüngeren Globalgeschichte. Die Lektüre einschlägiger Texte wird begleitet von Werkstattberichten von Historikern der CEU, wie etwa Gábor Klaniczay, Tijana Krstić, Alexei Miller und Balázs Trencsényi. Über die konventionellen Epochengrenzen hinaus werden so den Studierenden theoretische Grundlagen vermittelt und ein Einblick in die empirische Forschung in unterschiedlichen historiographischen Kontexten gewährt.
Die CEU vereint aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung, der internationalen Zusammensetzung von Fakultäten und Studierendenschaft globale Perspektiven mit wichtigen regionalen Forschungsschwerpunkten. Sie hat sich damit zu einem Bindeglied zwischen westlichen Forschungseinrichtungen, Osteuropa, Russland, der Türkei und dem Nahen Osten entwickelt. Dies macht sie zu einem wichtigen Forschungszentrum in der europäischen Wissenschaftslandschaft. Das Besondere ist, dass die vergleichende Perspektive die institutionalisierten Traditionen eines Fachs, die sich an anderen Universitäten verstärkt auf einen Sprachraum oder zumindest einen Raum gemeinsamer historischer Erfahrung konzentrieren (etwa die der „Allgemeinen Geschichte“ in Deutschland), nicht nur ergänzt, sondern an der CEU selbst den Fokus in Forschung und Lehre bildet. Darin besteht eine weitere Herausforderung, denn um etwa das diplomatische Geschenkwesen im frühneuzeitlichen Russland und im Osmanischen Reich oder Konfessionalisierung in Polen-Litauen, Modernisierungsdiskurse in Tiflis und Beirut im ausgehenden 19. Jahrhundert oder den BBC World Service und Radio Free Europe während des Kalten Kriegs in ihren jeweiligen Zusammenhängen vergleichend studieren zu können, (um nur einige Themen laufender und abgeschlossener MA-Projekte zu nennen), muss die CEU ein integriertes Umfeld bieten, das zusammenführt, was sich anderswo aufgrund von Lehrplanstrukturen, Zuordnungen zu Lehrstühlen, oder fachspezifischen Traditionen auf verschiedenen Etagen der Philosophentürme befindet. Die Departmentstruktur der CEU macht dies möglich, da die Bewerberinnen und Bewerber für MA- und PhD-Programme gemeinsam von den Kollegen ausgewählt und die Forschungsarbeiten in interdisziplinärer Zusammenarbeit betreut werden. Die Studierenden, die in der Mehrheit mit Stipendien aufgenommen werden, haben in ihren Heimatländern bereits Abschlüsse in Geschichte oder benachbarten Disziplinen erworben, (in der Zusammensetzung aus den letzten zwei Kursen, die ich unterrichtet habe, kamen die Absolventen aus Armenien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Georgien, Italien, Iran, Moldawien, Österreich, Russland, Serbien, Türkei, Ukraine, Ungarn, USA). Es gehört zur Erkenntniserfahrung an der CEU, sich zunächst aus seinem eigenen Kontext geworfen zu sehen, da so viele historische Teildisziplinen aufeinandertreffen. Der Vergleich ist hier nicht nur eine Frage der Methode, sondern drängt sich als Selbstvergleich auf, sobald man die Historizität der eigenen Disziplin begreift, und zwar nicht als abstrakt-geschichtsphilosophische Tatsache, sondern ganz konkret in den Diskussionen mit den anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen. Der Selbstvergleich hilft dabei, die Parameter des Denkens neu zu ordnen. Er hilft, sich auf die eigene intellektuelle Herkunft zu besinnen, um zu erkennen, wie man die Traditionen des eigenen Fachs nicht nur hinterfragen, sondern auch bewahren kann, ohne sich von ihnen beschränken lassen zu müssen, ja dass es voraussetzt, sich auf sie zu besinnen, um überhaupt über sie hinweg denken zu können.
Als internationale akademische Institution sieht sich die CEU mit einer dritten Herausforderung konfrontiert. Alle namenhaften Universitäten in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Europa sind stark international ausgerichtet, v.a. im Graduierten-Bereich, aber es gibt nur wenige Universitätsstandorte, an denen anglophone und kontinentaleuropäische akademische Kulturen im wissenschaftlichen Alltag in so engem Austausch stehen wie in Budapest – dank der CEU und der internationalen Zusammensetzung ihrer Fakultäten und der Diversität ihrer Studierendenschaft. Dabei geht es nicht nur um die gegenseitige Rezeption von Forschung, Austausch von Wissen und den Transfer von Debatten, sondern auch darum, dass die globalen Asymmetrien in den Sozial- und Geisteswissenschaften an der CEU austariert und die Prämissen, die mit unterschiedlichen akademischen Kulturen und ihren Wissenschaftssprachen daherkommen, ständig neu ausgehandelt werden. Diese Form der Begegnung schafft eine intensive und produktive Arbeitsatmosphäre und schärft den Blick für neue Ansätze, die oft erst außerhalb des eigenen akademischen Systems sichtbar werden. Die CEU ist ein Laboratorium und vorbildliches Beispiel für den Austausch auf Augenhöhe, der sowohl Professorinnen und Professoren als auch die Studierenden zu Vergleichen zwischen den grundlegenden Werten und Normen unterschiedlicher akademischer Kulturen auffordert, um die eigene Forschung in der internationalen Wissenschaft zu verorten.
Dieses dreifache vergleichende Engagement bestimmt den Alltag in der Lehre und zieht sich wie ein roter Faden durch die verschieden Forschungsgruppen und -zentren von der Frühen Neuzeit über Labour History, Russische, Ukrainische und Eurasische Geschichte, politische Ideengeschichte bis hin zu Religious Studies, Jewish Studies und Eastern Mediterranean Studies, um nur einige zu nennen. Aufgrund dieser einmaligen Ausrichtung genießt die CEU einen ausgezeichneten Ruf als eine Universität, deren Identität auf besondere Weise mit ihrem Standort verbunden ist – und dies auch bleiben soll.