Wir wissen, dass Unglücke und Schicksalsschläge, wie beispielsweise das Wüten von Seuchen, die Geschichte der Menschheit durchziehen. Wir wissen darüber allerdings nur das, was uns überliefert wurde. Für die Moderne mit ihren vielen politischen Veränderungen sowie technischen Neuerungen mangelt es nicht an Zeitzeugenschaft über Ausbruch, Verlauf und Folgen von größeren Katastrophen. Für die Zeiten davor sieht das schon anders aus, vor allem für die Antike, über die uns nur verhältnismäßig wenige Zeitgenossen über das Geschehene berichten. Der Historiker Thomas Gartmann untersucht im Rahmen seines von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Dissertationsprojekts, welche Historiographen im alten Rom was und wie über Unglücke wie Seuchen oder Stürme sowie über die Nutznießer von Katastrophen wie beispielsweise Spekulanten überliefert haben und stößt dabei auf interessante Parallelen zur akuellen Coronakrise. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Bei den großen Sinnfragen hat sich in den letzten zwei Jahrtausenden nicht allzu viel verändert"
L.I.S.A.: Herr Gartmann, Sie forschen zurzeit im Rahmen Ihres Dissertationsprojekts zu Stürmen, Seuchen und Spekulanten in der Antike. Genauer: Sie untersuchen, wie antike Autoren die Ursachen von Versorgungsengpässen in Rom beurteilt haben. Bevor wir zu Ihrem Projekt kommen – wie ist das eigentlich, wenn sich die Gegenwart plötzlich zu einer Reihe von historischen Analogiebildungen aufdrängt? Oder sind Analogien zwischen antiken Seuchen und Versorgungsengpässen und ähnlichen Zusammenhängen heute unsinnig?
Gartmann: Lassen Sie mich mit der zweiten Frage beginnen: Eine Gegenüberstellung von antiken und modernen Verhältnissen finde ich eigentlich immer gewinnbringend – solange man sich bewusst ist, dass sich gewisse Dinge eher vergleichen lassen als andere.
Einerseits findet sich meiner Meinung nach bei den antiken Autoren - von den griechischen Epikern, Philosophen und Komödiendichtern bis zu den römischen Historiographen und Satirikern - bereits praktisch die gesamte Bandbreite an denkbarem menschlichem Verhalten. Sowohl bei den großen Sinnfragen als auch bei den kleinlichen Alltagsquerelen hat sich da in den letzten zwei Jahrtausenden nicht allzu viel verändert – und das menschliche Verhalten in Krisenzeiten bildet da mit Sicherheit keine Ausnahme. Antworten auf die Frage, was die Ursachen für eine bestimmte Hungersnot gewesen seien, sagen zudem nicht selten mehr über den politischen Standpunkt der antwortenden Personen aus, als über die tatsächlichen Probleme – in der Antike wie heute. Wenn es unter ‘schlechten’ Kaisern (wie Caligula oder Nero) zu Versorgungsproblemen kam, waren die Herrscher aus Sicht der überlieferten Quellen typischerweise persönlich und vorsätzlich dafür verantwortlich. ‘Gute’ Kaiser (wie Augustus oder Trajan) hatten dagegen denselben Autoren zufolge einfach häufig Pech mit dem Wetter. Nach Parallelen für derartige Verzerrungen muss man in der Gegenwart nicht lange suchen.
Andererseits kam es aber insbesondere im Zuge der industriellen Revolution, und noch einmal verstärkt im 20. Jahrhundert, zu so grundlegenden technologischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, dass beim Vergleich mit den antiken Verhältnissen vor allem deutlich wird, wie unterschiedlich die Lebenswelten waren. Besonders eindrücklich treten diese Veränderungen etwa bei den landwirtschaftlichen Erträgen, den Transportmöglichkeiten und der Medizin zu Tage: Die Erträge pro Aussaatmenge oder Fläche erreichten in römischer Zeit nur unter günstigen Bedingungen etwa einen Zehntel dessen, was heute dank Kunstdünger und wissenschaftliche Züchtungen üblich ist. Zudem absorbierte die Landwirtschaft etwa 80 Prozent aller verfügbaren Arbeitskräfte, da alle Arbeiten von Hand oder mit Hilfe von Zugtieren erledigt werden mussten. Die Transporte von Lebensmitteln über das Meer und über Flüsse waren stark saisonal geprägt und wetterabhängig. Und über Land ließen sich schwere Güter wie Getreide üblicherweise nur beschränkt transportieren, sodass Strecken über etwa 100 Kilometer nicht mehr rentabel, solche über 1.000 Kilometer sogar praktisch unmöglich zu bewältigen waren. Im medizinischen Bereich hat man zudem den Eindruck, dass in der Antike die Chancen auf Heilung für diejenigen, die sich den Göttern zuwandten, und für diejenigen, die einen Arzt aufsuchten, im Schnitt ähnlich ‘gut’ waren. Solche Einschränkungen müssen die Gesellschaft in einer Weise geprägt haben, die wir nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen können.
Nun komme ich aber doch noch kurz auf die erste Frage zurück: Um den Fragen im Mittelpunkt meines Dissertationsprojekts nachgehen zu können, muss ich mich mit einer breiten Palette von interessanten Aspekten auseinandersetzen, welche für die Versorgung einer antiken Metropole relevant sind – von der Demografie über Landwirtschaft und Logistik bis zu Ernährung und politischen Institutionen. Wenn sich also im Zuge meiner Arbeit keine Gelegenheit geboten hätte, den Bezug zur Gegenwart herzustellen, wäre dies erstaunlich dumm gelaufen…