L.I.S.A.: Herr Professor Gehrmann, Sie haben sich als Historiker intensiv mit der Geschichte des Fußballs im Ruhrgebiet beschäftigt und dazu publiziert. Wie sehr gehört der Fußball zum Ruhrgebiet? So wie Steinkohle, Bergbau und Zechen?
Prof. Gehrmann: Der Fußballsport ist eine Sportart, die nach Ende des Ersten Weltkriegs die Lebenswelt insbesondere der Bergarbeiterschaft im Ruhrgebiet in nachhaltiger Weise bestimmt hat. Man kann sagen, dass der Fußballsport in diesem Sozialmilieu eine prägende Bedeutung gewinnen konnte. Die Gründe dafür sind vielfältig, und ich möchte sie hier nur kurz ansprechen. Zunächst ist zu beachten, dass diese Sportart ohne großen Aufwand und ohne große Ansprüche an Größe und Beschaffenheit von Spielplätzen, Spielgeräten etc. bereits im Kindes- und Jugendalter außerhalb einer vereinsmäßigen Organisation und ohne Fixierung aufbestimmte Teilnehmerzahlen betrieben werden kann. Dieses gleichsam "wilde" Betreiben des Fußballsports, aus dem der "Straßenfußballer" und sein Mythos geboren wurden, musste in einem gesellschaftlichen Milieu gedeihen, das von Arbeiterfamilien bestimmt wurde, die oft über eine große Kinderzahl verfügten und deren materielle Mittel gleichwohl in der Regel sehr beschränkt waren. Das Ergebnis: Auf jedem freien Areal - das konnten eine Straße oder ein Straßenabschnitt sein (der Autoverkehr spielte damals so gut wie keine Rolle), ein Marktplatz, eine Wiese oder ein Hinterhof in einer Wohnkolonie - spielten kleine, mittlere und große Cliquen von Halbwüchsigen Fußball, außerhalb der winterlichen Jahreszeit häufig ohne Schuhe, d.h. barfuss, wobei als Spielgerät oft ein aus Stoffresten zusammengesetztes ballähnliches Gebilde fungierte. Kinder und Jugendliche, die unter solchen Bedingungen mit dem Fußball in Berührung kamen - Fußball gleichsam als "Arme-Leute-Sport" -, waren oft schon hervorragende Spieler, bevor sie sich irgendeinem Verein schließlich anschlossen. Man beherrschte also diese Sportart schon häufig mit großer Virtuosität, bevor man sie systematisch auf der Ebene der vereinsmäßigen Organisation mit regelmäßigem Trainings und Wettkampfbetrieb weiter ausübte.
Schließlich ist in dem Zusammenhang noch ein weiteres Element zu beachten. Darauf zu verweisen, erscheint zwar etwas spekulativ, dennoch soll es hier zumindest angesprochen werden. Es hat zu tun mit dem Charakter der bergmännischen Arbeit selbst. Diese Arbeit zeichnete sich dadurch aus, dass sie sowohl körperliche Kraft und Robustheit wie auch körperliche Wendigkeit und rasche Entschlusskraft verlangte. Dies sind Eigenschaften, wie sie insbesondere in Sportarten wie dem Fußballsport, der ja in erster Linie einen auch auf physischer Kraft und Wendigkeit beruhenden Kampfsport darstellt, verlangt werden. Neben dieser ins Auge springenden Affinität zwischen der Arbeitswelt auf der einen und dem Fußballsport auf der anderen Seite ist noch folgendes zu beachten: Bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein war bergmännische Arbeit unter Tage oft so organisiert, dass vor dem Kohlenstoß kleine Gruppen von vier bis acht Mann arbeiteten. Sie bildeten sogenannte Ortskameradschaften. Solche Gruppen arbeiteten oft im Akkord, d. h. je höher die Arbeitsleistung der Gruppe insgesamt war, desto höher war auch der gesamte Verdienst. Der Lohn des einzelnen war also abhängig von der Arbeitsleistung der Gruppe insgesamt. Die Arbeit dieser Ortskameradschaften tief unter der Erde in großer Hitze, bei Staub, Dreck und Dunkelheit war äußerst gefährlich, jeder musste sich hier - also "vor Ort", wo die Kohle mit Presslufthammer und Hacke abgebaut wurde - auf den Nebenmann hundertprozentig verlassen können und ständig bereit sein, dem anderen zu helfen und beizuspringen. Dieser Zwang zum Teamwork und die wechselseitige Abhängigkeit von Menschen, die unter ständiger Lebensgefahr arbeiteten, begünstigte die Entstehung einer besonderen Einstellungsweise man könnte auch sagen: einer besonderen Mentalität, die den Charakter dieser Menschen insgesamt prägte. Für sie waren kennzeichnend Verlässlichkeit, Hilfs- und Einsatzbereitschaft, wo immer Not am Mann war, und die Bereitschaft, sich in eine Gruppe einzufügen und sich einem Gruppenzweck unterzuordnen. Fußball ist ein Mannschaftssport., in dem es gerade auch auf solche Eigenschaften ankommt. Dass der Fußball speziell auf Bergleute eine besondere Anziehungskraft ausübte, war mit einiger Wahrscheinlichkeit somit auch in solchen mentalen Zusammenhängen begründet.