1) zu Fever Pitch:
[...Nick Hornbys 1992 erschienener Text Fever Pitch ist semi-autobiographisch, enthält aber auch fiktionale Elemente. Er schildert, strukturiert entlang der Spiele des Fußballclubs FC Arsenal London, die jeweils immer mit Ereignissen aus dem Leben des Protagonisten korreliert werden, die "Fankarriere" dieses Protagonisten über einen Zeitraum von ungefähr 25 Jahren, nämlich von seinem ersten Stadionbesuch im Jahr 1968 bis in die Erzählgegenwart hinein. Dieses Strukturmerkmal des Textes verweist auf die enge Verschränkung zwischen personaler und sozialer Identität einerseits, kollektiver Identität andererseits: Der Beginn der Fußballleidenschaft von Hornbys Alter Ego fällt mit der Trennung seiner Eltern in seiner Kindheit zusammen.
[...]
Obwohl die kollektive Identität, die über die Obsession des Protagonisten mit Arsenal (den "Gunners") konstruiert wird, nicht eine nationale ist, sondern sich gewissermaßen unterhalb der nationalen Ebene abspielt – Hornby selbst bezeichnet sie als die einer "Gemeinschaft in der Gemeinschaft" ("community within a community", 116) und vergleicht die Identiale der Fußballfans mit denen der chinesischen Minderheit in London –, ist Fever Pitch doch insofern interessant, als er die Mechanismen kollektiver Identitätsbildung bloßlegt und analysiert. Hierfür ein Textbeispiel, das im Übrigen auch auf die Rolle des Körpers als Idential verweist; es beschreibt die Reise des Protagonisten zu einem Auswärtsspiel in Derby:
"At our destination we were met by hundreds and hundreds of police, who then escorted us to the ground by a circuitous route away from the city centre; it was during these walks that my urban hooligan fantasies were given free rein. I was completely safe, protected not only by the law but by my fellow supporters, and I had therefore been liberated to bellow along in my still-unbroken voice with the chanted threats of the others. I didn't look terribly hard, in truth: I was as yet nowhere near as tall as I should have been, and wore black-framed Brains-style National Health reading glasses, although these I hid away for the duration of the route marches, presumably to make myself just that little bit more terrifying. But those who mumble about the loss of identity football fans must endure miss the point: this loss of identity can be a paradoxically enriching process. Who wants to be stuck with who they are the whole time? I for one wanted time out from being a jug-eared, bespectacled, suburban tweep once in a while; I loved being able to frighten the shoppers in Derby or Norwich or Southampton (and they were frightened – you could see it). My opportunities for intimidating people had been limited hitherto, though I knew it wasn't me that made people hurry to the other side of the road, hauling their children after them; it was us, and I was part of us, an organ in the hooligan body. The fact that I was the appendix – small, useless, hidden out of the way somewhere in the middle – didn't matter in the slightest. [Hornby, Fever Pitch, 54]"
[...]
Im Kontext einer Geschichte des Fußballfilms, die nach dem gesellschaftlichen Ort fragt, in dem Fußball jeweils präsentiert wird (also danach, wie soziale Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Nation usw. durch diese Präsentation fixiert oder über sie kritisch hinterfragt werden können) ist Fever Pitch insofern interessant, weil er – wie die synchron mit der Biographie des Fans verlaufende Entwicklung des englischen Fußballs – den Fußball seiner traditionellen Verankerung im Unterschichtenmilieu beraubt. Anders als britische Fußballfilme vor Fever Pitch ist hier die Begeisterung für Fußball nicht klassengebunden und nicht an den industriellen Norden Englands, sondern an die Metropole London geknüpft. Stattdessen wird, wie bereits angedeutet, die Klassen- zur Genderthematik hin verschoben...]
2) zu Das Wunder von Bern
[...Um "nationale Gemeinschaftsbildung und Integration" geht es in der Tat zentral in Sönke Wortmanns Films aus dem Jahr 2003 – "Das Wunder von Bern", Untertitel: "Jedes Kind braucht einen Vater, jeder Mensch braucht einen Traum, jedes Land braucht eine Legende". Doch bevor wir nun zu diesem Film, und zu dieser Legende, kommen, erst einmal die historischen Hintergründe.
Die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz war – nach den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki – das zweite sportliche Großereignis, zu dem deutsche Mannschaften wieder zugelassen worden waren. In Helsinki hatten deutsche Sportler jedoch keine einzige Medaille gewonnen, und im Fußball hatten deutsche Nationalmannschaften ohnehin in der Vergangenheit keine großen Erfolge feiern können. 1954 gelangte die deutsche Nationalmannschaft jedoch erstmals in ein Endspiel und traf dort – am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion – auf die favorisierte ungarische Mannschaft, von der sie in der Vorrunde bereits einmal, 3:8, geschlagen worden war. Dieses Endspiel hatte deutliche mythogene Züge – und wird in der einschlägigen Forschung, etwa von Florian Breitmeier, auch als "der einzige Mythos in der Geschichte der Bundesrepublik" bezeichnet [Breitmeier, Florian, "Ein Wunder, wie es im Drehbuch steht: Die WM 1954 – ein deutscher Erinnerungsfilm", in: Pyta, Der lange Weg zur Bundesliga, 127-149, hier 129]; mit "Mythos" ist hier eine Geschichte gemeint, die eine bestimmte Zeit – deren Wirklichkeit, Normen und Werte, Erfahrungen und Hoffnungen, Nöte und Ängste – konserviert und damit sowohl personale und soziale wie kollektive Identitätsbildungen beeinflusst. Diese Geschichte dient einer Gesellschaft zur Orientierung und Rechtfertigung, speziell in Umbruchsituationen.
[...]
Daher ist die zentrale Frage nun die, warum und zu welchem Zweck der Sieg der deutschen Mannschaft den Mythos des "Wunders von Bern" generiert. Eine Antwort auf diese Frage erfordert einen Blick auf die Situation Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die unter anderem durch eine weitgehende Verdrängung der deutschen Kriegsschuld zugunsten einer Konzentration auf den Wiederaufbau und den wirtschaftlichen Aufschwung – später als das deutsche "Wirtschaftswunder" bekannt – gekennzeichnet ist. Die deutsche nationale Identität ist eine hochproblematische geworden, nicht zuletzt deswegen, weil das für diese Identität seit der Reichsgründung 1871 zentrale Idential, das Militär, unwiderruflich diskreditiert ist und die neue Bonner Bundesrepublik (noch) kein Identifikationspotential besitzt. Allerdings hat sich mit dem "Geist von Spiez" eine militärische Tugend, die der Kameradschaft, als "unpolitisch" in die Nachkriegszeit hineingerettet – eine Art Landsermentalität, die insbesondere mit Fritz Walter verknüpft wird, der im Krieg an der Front "gedient" hat. Diese Landsermentalität findet ihre Entsprechung in der anti-individualistischen Rhetorik der deutschen Sportberichterstattung, deren Vertreter – im Übrigen wie der deutsche Trainer (oder vielmehr "Spielleiter") Sepp Herberger – ihre Karrieren nach dem Krieg nahtlos dort fortsetzen können, wo sie durch den Krieg unterbrochen worden sind.
[...]
Der Mythos des "Wunders von Bern" ist also ein Gründungsmythos, der – wie unter anderem der Politologe Arthur Heinrich und der Historiker Joachim Fest behaupten – der "wahren Geburtsstunde der Bundesrepublik". Dieser Mythos gerät aber in den nächsten Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit und wird erst in einer anderen historischen Umbruchssituation, in der nationale Identität nicht zuletzt im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erneut zu einem zentralen gesellschaftlichen Thema wird, reaktiviert; zeitgleich mit dem 50. Jahrestag des "Wunders von Bern" 2004, der auch in die Vorbereitung auf die nunmehr in Deutschland auszutragende Weltmeisterschaft von 2006 fällt. Neben Dokumentarfilmen zu diesem 50. Jahrestag ist es vor allem Sönke Wortmanns Film, der den Weltmeisterschaftserfolg von 1954 in das kollektive Gedächtnis zurückholt und ihn dazu nutzt, um 1954 als tatsächlichen Wendepunkt in der kollektiven Depression der Deutschen nach 1945 zu markieren.
Wortmanns Das Wunder von Bern wurde offiziell vom Deutschen Fußballbund gefördert und rief ein zwiespältiges Echo hervor: Von seinen Kritikern im In- und Ausland wurde der Film im Kontext eines erstarkenden nationalistischen Diskurses verortet, durch den ein neues, positives Nationalgefühl auf der Basis positiver Momente der eigenen Geschichte vermittelt werden soll. Moshe Zimmermann zum Beispiel verweist in seiner Filmkritik dabei auch auf einen aufschlussreichen intermedialen Bezug von Das Wunder von Bern, nämlich zu Fassbinders Die Ehe der Maria Braun von 1979, in dem die letzten acht Minuten der Rundfunkreportage mit Maria Brauns tragischem Ende durch eine Gasexplosion synchronisiert werden. Und:
The film fits well into the mood prevailing lately in Germany: Paying more attention to the suffering of the German population before and after the end of World War II, while at the same time paying less attention to the connection between the tragic outcome of the war for the Germans and German conduct during the war. Yet, the film does not deserve an overdose of criticism relating to this aspect. After all it is essentially an attempt to reconstruct one of the finest hours of the Federal Republic of Germany and to create a good and 'sellable' story for the general public, not only for soccer fans. [Zimmermann, Moshe, "Review of, Das Wunder von Bern." H-German, H-Net Reviews. March, 2004. http://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=15359]
3) zu Merry Christmas
Auch der Film Merry Christmas des französischen Regisseurs Christian Carion fiktionalisiert, wie Wortmanns Das Wunder von Bern, ein historisches Ereignis: Zu Weihnachten 1914 schließen Soldaten an der Westfront – Briten, Franzosen und Belgier einerseits, Deutsche andererseits – mehrtägige spontane Waffenstillstände, die natürlich bald von den jeweiligen Befehlshabern auf beiden Seiten unterbunden werden. Die entsprechenden historischen Quellen – Regimentsaufzeichnungen, Briefe, Tagebücher usw. – sind mittlerweile gut erschlossen und berichten übereinstimmend, dass es nach ersten Kontakten – Zurufen, gemeinsamem und wechselseitigem Gesang – zu zahlreichen persönlichen Begegnungen zwischen den Schützengräben gekommen sei, die meist mit der gemeinsamen Bergung der Gefallenen beider Seiten beginnen und sich dann im Austausch von Geschenken – und verschiedentlich eben in Fußballspielen – fortsetzen.
[...]
Abschließend wäre auch für diesen Film – eine dreisprachig gedrehte europäische Koproduktion mit Schauspielern aus Deutschland, Großbritannien und Frankreich – zu fragen, warum die Geschichte vom Fußballspielen zwischen den Schützengräben zu Beginn des 21. Jahrhunderts in das kollektive Gedächtnis eines nunmehr europäischen Publikums zurückgeholt wird. Hierzu drei vorläufige Antworten:
Vielleicht ist der Fußball nicht nur, wie eingangs behauptet, inhärent dichotomisch angelegt: ein Fußballspiel kann nur dann gut werden, wenn zwei Mannschaften nicht nur gegen-, sondern auch miteinander spielen. Das "Spielfeld" des Films ist entsprechend das einer gemeinsamen "europäischen" Identität.
Fußball hat, wie ebenfalls bereits bemerkt, als global beliebte Sportart eine ausgeprägte transnationale Dimension, die in den letzten Jahrzehnten durch seine Kommerzialisierung und mediale Vermarktung so verstärkt worden ist, dass die Affinität zwischen Fußball und nationaler Identität, wie etwa Habbo Knoch argumentiert, mittlerweile Brechungen und Störungen erfahren hat, wenn auch nicht gänzlich aufgehoben worden ist, "denn natürlich bleibt die Mobilisierbarkeit ethnozentrischer Verzerrungen und chauvinistischer Tendenzen bestehen." [Knoch, Habbo, "Gemeinschaft auf Zeit. Fußball und die Transformation des Nationalen in Deutschland", in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.), Fußballwelten. Zum Verhältnis von Sport, Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrich, 2002, 117-153, hier 146] Zu den von Knoch genannten Brechungen und Störungen gehört beispielsweise auch, dass alle europäischen Profimannschaften und viele Nationalmannschaften mittlerweile nicht mehr "ethnisch homogen" sind.
Diese Entwicklungen verlangen, Michael Groll zufolge, nach einer Sportpolitik, die berücksichtigt, dass Grenzziehungen in der Zukunft quer zu etablierten Territorialgrenzen verlaufen werden [Groll, Michael, "Wir sind Fußball. Über den Zusammenhang zwischen Fußball, nationaler Identität und Politik", in Mittag und Nieland, Das Spiel mit dem Fußball, 177-189, hier 188-189] – wie dies Merry Christmas eindrucksvoll vor Augen führt, wenn durch Überwindung der jeweiligen (tatsächlichen und mentalen) Gräben das Niemandsland zwischen den Fronten zum Spielfeld werden kann.]]