Im Zuge der jüngsten Debatte um die Abschaffung von Hartz IV wurde auch vielfach Kritik an Mitarbeitern der arbeitsvermittelnden Jobcenter geäußert. Die Bundesagentur für Arbeit verwahrte sich gegen Vorwürfe, Arbeitslose würden gegängelt oder gar gedemütigt. Vielmehr sei "wieder eine Atmosphäre des konstruktiven Miteinanders" geboten, so zuletzt Valerie Holsboer, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, in einem Zeitungsinterview. Ist ein konstruktives Miteinander aber überhaupt möglich, wenn eine der beiden Parteien dazu angehalten wird, folgsam zu sein? Die Soziologin Dr. Bettina Grimmer von der Universität Siegen hat sich im Rahmen ihrer Dissertation mit den sozialen Beziehungen in Jobcentern beschäftigt und kommt zu der These, dass es dabei in erster Linie darum gehe, Folgsamkeit bei den sogenannten Klienten herzustellen. Wir haben sie ihr zu ihrer Arbeit und ihren Forschungsergebnissen befragt.
"Termine im Jobcenter schienen ein großes Konfliktpotenzial zu bergen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Grimmer, Sie haben im Rahmen Ihrer Dissertation die Arbeitsvermittlung in Jobcentern untersucht. Nun ist zuletzt das Buch dazu erschienen, das den Titel „Folgsamkeit herstellen“ trägt. Bevor wir zu einigen Details kommen, was hat Sie zu Ihrem Thema geführt? Welche Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Dr. Grimmer: Ich untersuchte damals in einem internationalen Forschungsverbund die Teilhabechancen von Arbeitslosen in Europa und rekonstruierte dafür die Arbeitslosengesetzgebung in Deutschland. Dabei begann ich mich zu fragen, was die praktischen Konsequenzen dieser Gesetze sind und wie sie bei den Betroffenen ankommen. Ich sprach mit Erwerbslosen und politisch Aktiven, die sich auch Jahre nach der Einführung der Hartz-Gesetze noch dagegen wehrten. Während im wissenschaftlichen Diskurs die Kritik an der neuen Politik meist auf der rechtlichen Ebene verblieb, haben die Betroffenen und Praktiker vor allem ihre praktische Umsetzung in den ARGen und Jobcentern kritisiert. Aus irgendeinem Grund schienen die Termine im Jobcenter ein großes Konfliktpotenzial für die Beteiligten zu bergen. Dem wollte ich auf den Grund gehen und die Jobcenter-Gespräche ethnographisch beobachten.
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Niemand wird auf Dauer bereit sein eine Gesellschaft mit seiner eigenen Arbeitskraft zu finanzieren, wenn andere nicht dazu bereit sind.
Die Folge konnte man im Staatssozialismus sehen: Schwarzmarkt, Unter-der-hand-Gemauschel, intransparentes Beziehungsgekungel. Der Normalbürger dagegen hatte das bloße Minimum (zumindest in Polen).
Ist das am Ende besser?
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und dann soll man dort erscheinen in dem Wissen, daß in dem Beratungsvermerk wie üblich Lügen stehen die als Wahrheit an die Gerichte weitergegeben werden und so die „Kunden“ auch heute auch von den Gerichten entrechtet und entwürdigt werden, weil denen alles geglaubt wird ohne jeglichen Anhaltspunkt. Das war jetzt nur ein kleiner rudimentärer Anfang von über 1000 Seiten Jobcenter – Akten (ohne der inoffiziellen Geheimakten, die es darüber hinaus auch noch gibt und überhaupt keiner Kontrolle unterliegen), fast 100 Gerichtsverfahren, fast 100 Petitionen … noch mehr unbeantwortete (Dienstaufsichts-)Beschwerden, Befangenheitsanträge, ANTRÄGE auf Auskunft (ANTRÄGE müssen immer beschieden werden!) …
und werde als klagefreudiger Problememacher benannt, auch von Richtern (!) ohne Grund als Betrüger bezeichnet, obwohl ich nur mein Recht auf die gesetzlichen Leistungen durchsetzen möchte … = was ist da also völlig „geisteskrank“ in diesem Staat ??? - und weshalb macht auch heute niemand etwas gegen diese Exzesse – und darf ich mich nach Urteilen der Gerichte nicht mal darüber äußern …
ein selbstverständlich vollständiger, pünktlicher und unbürokratischer Leistungsbezug sowie Dienstleistungen überall vorausgesetzt werden, obwohl nicht vorhanden – und nach Treu und Glauben – und dann auch keine Pflichten für den „Kunden“ bestehen, er jedoch trotzdem seine Pflichten zu erfüllen hat mit Nötigung / Erpressung durch Sanktion oder vollständiger Leistungsversagung.
Es gibt viele Arten zu töten:
Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen,
einen von einer Krankheit nicht heilen,
einen in eine schlechte Wohnung stecken,
einen zum Selbstmord treiben,
durch Arbeit* zu Tode schinden,
einen in den Krieg führen u.s.w.
und nur wenig ist in diesem Staate verboten.
Bertold Brecht
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Aber sie haben wohl recht - ich als "Neoliberaler" werde wohl nie verstehen das Linke wie sie immer die selben Attitüden an den Tag legen, die schon hunderfach gescheitert sind und nur ins Elend führen. Es bleibt dabei: Der Sozialismus funktioniert genau so lange, bis ihm das Geld derjenigen ausgeht, die ihn nicht wollten...
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Neoliberale mit ihren immer gleiche Attitüden.
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Wahr ist aber auch - siehe Berlin oder Venezuela - wenn es nicht einen gewissen Druck gibt, zerbricht der Sozialstaat in kürzester Zeit. Berlin hat Glück und wird massiv subventioniert und so vor einem Zusammenbruch bewahrt, in Venezuela sieht es trotz Öl leider anders aus...
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Warum distanzieren sich die Mitarbeiter der Jobcenter wirklich von den Antragstellern? Ist das "nur" ein Machtgehabe, oder hat man evtl. so viele schlechte Erfahrungen gemacht, dass grundsätzlich diese Trennung der beiden Welten nachvollziehbar wird?
Alles was ich oben lese, erscheint mir sehr subjektiv. Eine Erfahrung durch die Begleitung von 8 Arbeitsvermittlern über einen geringen Zeitraum. Repräsentativ erscheint mir das nicht. Daraus tatsächlich dann auch ein Buch zu schreiben, erscheint mir mehr als bedenklich. Offensichtlich gibt es eine sehr einseitige Betrachtung der Wirklichkeit. Evtl. denken die Mitarbeiter tatsächlich darüber nach, dass ihr Arbeitsleben nicht so ungefährlich ist, wie das der Öffentlichkeit preisgegeben wird. Da es in der Wirklichkeit schon zu Tötungen von Mitarbeitern der Jobcenter gekommen ist, ist die Handlungsweise m. e. ein wenig nachvollziehbar.
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Selbstverständlich ist es zu viel verlangt und seelisch äußerst belastend, sich ständig vor irgendeinem selbstherrlichen Schreibtischtäter rechtfertigen zu sollen. Das lässt sich überhaupt nicht mit den Anforderungen des Alltags im Rahmen einer Arbeitsstelle vergleichen, nicht mal ansatzweise!
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Fragt sich nur, wie ich das meiner Putzfrau, die jeden Morgen um 7 Uhr pünktlich zum Dienst auf der Matte steht, mitteile? Ist ja dann auch nicht zumutbar...vielleicht machen wir alle einfach gar nichts mehr und gucken mal, was passiert? Wäre mal ein interessantes Projekt.
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Wiebke Wiede, Von Zetteln und Apparaten. Subjektivierung in bundesdeutschen und britischen Arbeitsämtern der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 466-487, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2016/id=5398