L.I.S.A.: Der Neorealismus des italienischen Kinos gilt als stilbildend für eine ganze Generation europäischer Filmemacher. Ob Vittorio de Sicas „Schuhputzer“ oder „Fahrraddiebe“, Guiseppe de Santis „Bitterer Reis“, Roberto Rossellinis „Paisà“ oder „Deutschland im Jahre Null“, Michelangelo Antonionis „Der Schrei“ oder „L’Avventura“, Luchino Viscontis „Die Erde bebt“ oder „Rocco und seine Brüder“, Federico Fellinis „La Strada“ oder „Die Nächte der Cabiria“, Pier Paolo Pasolinis „Accatone“ – alle Filme folgen den Vorgaben der Entzauberung, der Abkehr von Heldengeschichten, stattdessen eine möglichst realistische und ungeschminkte Darstellung von Menschen, Milieus und Machtverhältnissen. Woher rührte diese Sehnsucht nach Realismus und Authentizität im Film?
Prof. Schenk: Zuerst einmal sind es die Regisseure und Drehbuchautoren selbst, die eine Art Sehnsucht nach einem realistischen Film entwickeln. Noch im Faschismus wird in den zentralen Zeitschriften Bianco e nero und Cinema die Forderung nach der Abwendung vom evasiven Kino des späten Faschismus gefordert und dabei auf frühe realistische Entwicklungen von Film, Literatur und Theater in Italien (Verismus), aber auch z.B. auf den sowjetischen Film der 1920er Jahre verwiesen. Aus diesen Diskursen und den praktischen Gegebenheiten entstehen dann ab 1945 die ersten neorealistischen Filme und aus eben diesen grundlegenden filmästhetischen Positionen bleibt dem italienischen Filmschaffen ein besonderer Realitätsbezug inhärent. Der wiederum sein Bedürfnispendant auch bei den Zuschauern hat, nicht nur äußerlich wegen der politischen und sozialen Irrungen und Wirrungen der neueren Geschichte Italiens, sondern vor allem wegen der tiefen inliegenden Widersprüche der Formationsgeschichte Italiens, wie sie in den Disparitäten von Nord und Süd oder Stadt und Land verankert sind.
Auch filmtheoretisch ist der Neorealismus ein Scharnier der Filmtheorie und Filmgeschichtsschreibung weltweit, mehr oder weniger manifest auch der Filmpraxis bis heute. Vor allem für spätere italienische Filmemacher bedeutet er eine besondere Verpflichtung zur Reflexion realistischer Filmarbeit. Gleichwohl ist der Neorealismus nirgends theoretisch eindeutig fixiert, am ehestens formuliert wird er in Texten und Drehbüchern von Cesare Zavattini. Konzeptionell zielt er auf den Verzicht auf Fabel und Fiktion zugunsten des Vertrauens in die Alltagswirklichkeit, auf ‚menschliche Fakten‘, die dokumentarisch und analytisch aufzuarbeiten seien, ohne Helden und möglichst mit Laien, die sich selbst darstellen, nach Möglichkeit an Originalschauplätzen. Besonders betont soll der Chronik-Charakter der Darstellung werden (Zavattinis film-lampo, Blitzlicht-Film), damit die Kollektivität und Choralität von Handlungen zur Geltung kommen. Am engsten werden diese Postulate in den Omnibus- und Episodenfilmen (mehrerer bzw. einzelner) Regisseure erfüllt, die daher bis in die 1970er Jahre in Italien so zahlreich wie in keiner anderen nationalen Kinematographie in Erscheinung treten. Die Tatsache, dass es eine festgeschriebene Theorie des Neorealismus nicht gibt, bedeutet zugleich, dass sich die filmische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in einem fortwährenden Prozess der ästhetischen Ausarbeitung befindet. So finden wir dann in Italien die vielfältigsten Ausformungen realitätsnahen Filmens, von Epoche zu Epoche, von Regisseur zu Regisseur, aber auch in der Werkbiographie einzelner Filmemacher.
Den Ausdifferenzierungen dieser Entwicklungen nachzuspüren und sie historisch zu konkretisieren, versuche ich in meiner Geschichte des italienischen Films, die als erste in deutscher Sprache die italienische Filmgeschichte von Anfang bis heute behandelt. Der andere rote Faden meiner Argumentation liegt in der Offenlegung der Bezüge zur Geschichte Italiens und der Lebenswirklichkeit der Menschen, die sich in den Filmen offenbaren, weshalb nicht nur jeweils kurze Einleitungen zur Politik-, Sozial- und Ideologiegeschichte den filmhistorischen Epochen vorausgestellt sind, sondern auch in den Filmanalysen die jeweiligen Hauptbezüge ausgewiesen werden.
Viscontis Die Erde bebt von 1948 handelt von einer ganz anderen Lebenswelt als Antonionis L’avventura von 1960, auch die ästhetischen Mittel sind ganz verschieden und trotzdem gehören beide Filme zusammen in ihrer Erkenntnisperspektive, die soziale und psychische Befindlichkeit ihrer Protagonisten mitzuteilen und zu verallgemeinern. Viscontis Rocco und seine Brüder 1961 behandelt brutal deutlich die sozialen Folgen der Nord-Süd-Disparität, während Antonionis Die Freundinnen 1955 in der Verfilmung von Paveses Roman Die einsamen Frauen die psychischen Nöte von bürgerlichen Frauen in Turin eher nüchtern untersucht. ‚Das Goldene Zeitalter des italienischen Films‘, wie wir es an anderer Stelle genannt haben,die 1960er Jahre, werden geprägt durch das Zweigestirn Antonioni und Fellini. Sie können unterschiedlicher kaum sein: der luzid-säkulare Analytiker der Befindlichkeiten der neuen bürgerlichen Klasse und der religiös-metaphysisch in surrealen Bildern schwelgende, die Vergangenheit beschwörende Synthetiker - und doch beschreiben sie beide zentrale Ausschnitte der Verfasstheit ihrer Gesellschaft.
Dabei ist es nicht nur der Neorealismus und der Autorenfilm der 1960er Jahre, der die Weltgeltung dieser Kinematographie bestimmt, sondern ebenso das populäre Kino: die Wiedergeburt des Peplum, des historischen Monumentalfilms, und die Neuerfindung des Italowestern ebenfalls in den 1960ern, neben anderen populären Genres. Der außerordentlich breit vertretene komische Film wiederum wird durch eine Sonderform gekrönt, die es im deutschen Sprachraum nicht oder nicht mehr gibt: die Komiker-Komik, die aus Formen des Volkstheaters entstandene Zuspitzung der Handlung auf die ‚Maske‘ eines Komikers, die ihren letzten Höhepunkt in Massimo Troisi und Roberto Benigni findet – mit dem Oscar für Benignis Das Leben ist schön 1999. Auch sie findet im Buch eine angemessene Berücksichtigung.