Was ist Europa? Diese Frage beschäftigt die Europäer seit je her. Sie ist bis heute nicht abschließend beantwortet. Die einen beklagen das, die anderen sehen darin vielleicht das spezifisch Europäische. Konkreter wurde es in der Vergangenheit aber, wenn es um die Frage ging, was denn Europa einmal sein soll: Ein geeinter Kontinent, in dem Frieden und Wohlstand herrschen. Für diese Vision von Europa steht vor allem eine Generation, die von den Kriegen auf dem Kontinent im 20. Jahrhundert geprägt war und ist. Viele ihrer Vertreter leben nicht mehr, es gibt nur noch wenige Zeitzeugen, die von den Anfängen der Idee Europa seit dem Zweiten Weltkrieg berichten können. Diese Stimmen festzuhalten, ist das Anliegen des Europäischen Archivs der Stimmen bzw. European Archive of Voices, das unter anderem von der Gerda Henkel Stiftung unterstützt wird. Wir haben den Leiter des Archivs, den Historiker Dr. Simon Strauß, gefragt, um was es genau bei diesem Projekt geht.
"Nicht beurteilend, sondern eher fragend an die Erinnerungen herangetreten"
L.I.S.A.: Herr Strauß, Sie sind der Initiator und Leiter des Projekts Europäisches Archiv der Stimmen/European Archive of Voices. Könnten Sie bitte kurz das Projekt umreißen? Worum geht es dabei im Wesentlichen? Was ist die Idee dahinter?
Dr. Strauß: Das Europäische Archiv der Stimmen ist ein multilinguales Zeitzeugenprojekt. Die interviewten "Europazeugen" stammen aus allen Ländern Europas und wurden in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geboren. Diese Männer und Frauen stehen repräsentativ für verschiedene nationale und kulturelle Perspektiven auf den Prozess der europäischen Einigung, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen hat. Sie wurden in einer Zeit der Umbrüche geboren, in den dunkelsten Stunden der europäischen Geschichte. Ihre Lebensgeschichten erzählen von den Erfahrungen, die zum gemeinsamen europäischen Gedächtnis gehören. Europa ist also nicht nur explizit, sondern vor allem auch implizit in jedem der Gespräche das zentrale Thema.
Unser European Archive of Voices soll zum Aufbau eines kollektiven europäischen Gedächtnis beitragen. Durch die Stimmen sollen vergangene Zeiten und Entwicklungen hörbar und erfahrbar werden. Im Gespräch mit jungen Menschen der Enkelgeneration, die die Interviews in der jeweiligen Landessprache geführt haben, berichten die Europazeuginnen und Europazeugen von ihren persönlichen Lebensläufen und reflektieren darüber, wie die europäische Idee sich darin gespiegelt hat. Man kann unser Projekt im Sinne einer Europäischen Erinnerungskultur verstehen, wie unsere Kuratorin Aleida Assmann sie gefordert hat. Dabei sind wir nicht beurteilend, sondern eher fragend an die Erinnerungen der verschiedenen Repräsentanten europäischer Nationen herangetreten, haben Platz gelassen, für ganz unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen, Erfahrungen und Lebensgeschichten. In ihrer Zusammenschau zeigen sich dann Verbindungslinien, die als Konturen eines europäischen Erfahrungsraumes, vielleicht einer geschichtlichen Identität Europas, beschrieben werden könnten.