Europa hat zurzeit viele Baustellen. Die Überwindung einer Seuche ist möglicherweise gerade die dringendste Aufgabe, aber es gibt noch viele andere - nicht zuletzt die Frage nach der europäischen Identität. Ein wichtiges Kriterium für die Identität nicht nur des Individuums sondern auch die einer Großgruppe ist die Erinnerung an das Vergangene und Erlebte. Im Falle Europas spielt dabei die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit bis 1989 eine entscheidende Rolle. Geprägt wurde diese vor allem durch die Memorierungen im Westen des Kontinents, insbesondere in Deutschland und in Frankreich, die des Ostens blieben weitgehend unberücksichtigt. Aber auch andere Länder Europas wünschen sich den "Beitritt zur Europäischen Erinnerungsgemeinschaft", wie der Historiker und wissenschaftliche Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz in unserem Interview zu bedenken gibt. Er forscht zur transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas, insbesondere zum Social Engineering in der Tschechoslowakei sowie zur Europäischen Erinnerung. Nachdem wir bereits Prof. Dr. Anke Hilbrenner, Prof. Dr. Alexey Miller und Prof. Dr. Jost Dülffer über die in diesem Zusammenhang umstrittene Resolution des Europäischen Parlaments zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg vom vergangenen September interviewt haben, haben wir dazu nun Dr. Gregor Feindt unsere Fragen gestellt.
"Das Beschweigen und Verdrängen, aber auch das Identitätsstiftende thematisieren"
L.I..S.A. Herr Dr. Feindt, in Europa, insbesondere in Ost- und Ostmitteleuropa, wird derzeit um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gerungen. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Wer war Täter, wer Opfer? Welchen Opfern steht welches Gedenken zu? Wie wird nicht nur die Erinnerungspolitik sondern auch die Geschichtsschreibung den im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen gerecht? Viele weitere Fragen mit hohem Konfliktpotential schließen sich an. Warum eigentlich? Warum sind diese Fragen gerade heute so virulent? Geht es hierbei um Geschichte oder eher um Politik?
Dr. Feindt: Es geht in diesen Fragen um Identität und um Selbstvergewisserung, deswegen sind sie so virulent. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerung daran sind grundlegend für das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften heute, mit jeweils eigenen Erzählungen und Schwerpunkten. Diese Erzählungen bewegen sich keineswegs immer nur in einem nationalen Rahmen, hier lassen sich oft regionale, sozio-kulturelle oder konfessionelle Erinnerungsgemeinschaften erkennen, genauso wie auch transnationale Deutungsmuster. Aber in einer Auseinandersetzung auf europäischer Ebene, und davon sprechen wir hier ja, dominiert dann doch der nationale Rahmen der Erinnerung.
Wenn man sich die Forderung nach einem Denkmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs in Berlin anschaut, um eines der prägnanten Beispiele zu nennen, dann handelt es sich um eine Forderung nach Anerkennung dieser historischen Opfer, aber auch nach Anerkennung für das heutige Polen. Demgegenüber steht das in Deutschland weitverbreitete Selbstverständnis eines erfolgreichen Erinnerns an den Holocaust. Dieses Bewusstsein der gelungenen Vergangenheitsbewältigung macht es offenbar schwer zu akzeptieren, dass der Vernichtungskrieg im Osten, d.h. nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in Polen, in Deutschland nur unzureichend bekannt ist. Ich vereinfache hier, denn es geht mir um die Struktur der Auseinandersetzung. Wer die Diskussion verfolgt hat, weiß, dass es auch in Deutschland Forderungen nach einem solchen Denkmal gibt und dass diese Debatte genauso einen Kontrapunkt zur deutschen Erinnerung an Flucht und Vertreibung setzt.
Wenn Sie also fragen, wie die Erinnerungspolitik dieser Komplexität gerecht werden kann, dann bleibt nur, die vielfältigen Erfahrungen und die daraus resultierenden Erinnerungen darzustellen. Die Komplexität muss öffentlich transparent werden. Das darf nicht unkritisch geschehen und muss Grenzen aufzeigen, aber eine solche Multiperspektivität hätte das Potential, einen Dialog herzustellen. Für den konkreten Fall hieße das, ein Denkmal für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs mit einem Informationszentrum zu verbinden und die in Deutschland tatsächlich nur wenigen Interessierten bekannte Geschichte der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg einem breiteren Publikum zu vermitteln. Dazu gehört dann auch die Geschichte der Erinnerung daran in Deutschland und Polen, also das Beschweigen und Verdrängen, aber auch das Identitätsstiftende zu thematisieren. Eine solche Erinnerungsarbeit sollte historisches Wissen vermitteln, muss Unterschiede in der Deutung sichtbar machen und helfen, diese Selbstvergewisserungen kritisch zu reflektieren. Allein das hilft, Spannungen abzubauen.