Die Bekämpfung der Armut stand beim gerade absolvierten Treffen der Gruppe der Zwanzig (G20) in Hamburg nicht explizit auf der Tagesordnung. Vielmehr ging es neben den vorrangigen ökonomischen und handelspolitischen Fragen um Klimapolitik, Digitalisierung, Gesundheit, Migration, Terror und die Zusammenarbeit mit Afrika. Dabei leben nach einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen gegenwärtig weltweit bis zu 1,2 Milliarden Menschen in extremer Armut. Welche Formen der Armut gibt es? Gibt es auch in den reichen Ländern des Nordens Armut? Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Philipp Lepenies von der Freien Universität Berlin hat sich in einer historischen Perspektive dieser Fragen angenommen und einen kleinen Band über Ursachen und Formen von Armut, aber auch Auswege aus der Armut geschrieben. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Das Thema Armut polarisiert immer noch"
L.I.S.A.: Herr Professor Lepenies, Sie haben kürzlich in der Reihe Beck Wissen einen kleinen Band mit dem Titel „Armut“ vorgelegt. Wie kommen Sie zu diesem Thema? Was verstehen Sie unter „Armut“?
Prof. Lepenies: Ich wollte nach dem Studium in der Entwicklungszusammenarbeit Berufserfahrung sammeln und habe mich zur Vorbereitung schon an der Universität mit dem Thema Armut beschäftigt, an der FU Berlin, aber vor allem an der London School of Economics. Schließlich verbindet man Entwicklungshilfe ja direkt mit der Bekämpfung von Elend und Armut in der Dritten Welt. Beruflich hatte ich als Projektmanager bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in Frankfurt mit Projekten in Asien und Lateinamerika zu tun, bei denen konkret Armut verringert werden sollte - durch den Bau von Krankenhäusern, Beschäftigungsprogramme im Straßenbau, die Versorgung mit Wasser und Saatgut, den Aufbau von Mikrobanken und so weiter. Ich war auch lange Jahre Ansprechpartner der Strategieabteilung der Bank für das Thema Armut.
Armut beschäftigt mich also schon sehr lange. Armut ist ein faszinierendes Thema. Man glaubt irgendwie genau zu wissen, was Armut ist und jeder möchte Armut verringern - aber je genauer man darüber nachdenkt, desto schwieriger ist es die Komplexität von Armut zu befassen. Wer ist arm und wer nicht? Ist Armut in dem Globalen Süden vergleichbar mit der Armut in Deutschland? Gibt es bei uns überhaupt Armut? Wie kann man Armut messen und wie exakt sind die Daten? Das sind alles Fragen, die gar nicht so leicht zu beantworten sind. Und wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, wie bei uns in Deutschland immer wieder politisch darüber gestritten wird, ob es Armut gibt oder nicht oder ob sie steigt oder nicht, wenn man die Kontroversen um die Armutsberichte der Bundesregierung verfolgt merkt man, dass das Thema immer noch polarisiert. Was mir bislang gefehlt hat war ein Buch, das versucht zu beschreiben, warum man unter Armut Unterschiedliches verstehen kann und woher diese Unterschiede kommen. Ein Buch, das sich des Themas Armut annimmt, ohne entweder nur auf Deutschland oder den Globalen Süden zu schauen. Das war der Grund für mich, das Buch zu schreiben.
Wenn Sie mich aber fragen, was ich unter Armut verstehe, würde ich auf den Ökonomienobelpreisträger Amartya Sen verweisen. Seine Capability-Theorie besagt, dass Armut immer dann gegeben ist, wenn Menschen daran gehindert werden, sich gemäß ihrer Anlagen zu entfalten. Das ist zwar ein sehr weiter Armutsbegriff. Aber er legt den Finger in die richtige Wunde - denn warum ein Mensch an seiner Entfaltung gehindert werden soll, das muss man erst einmal begründen können.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Neue Forschungsansätze zum Thema Armut und Politikverdrossenheit erarbeiten?
Das Entsetzen über die Bilder von den verwüsteten Straßen in Hamburg nach dem G20-Gipfel, die Forderungen nach der Schließung der Roten Flora, die Schuldzuweisung bei der Hamburger Polizei sind die Reaktionen, welche noch die Medien bestimmen. Was kommt dann?
Das Ausmaß dieser Krawalle und ungehemmten Zerstörungswut sind zweifellos eine völlig sinnlose Art, gegen eine Weltpolitik aufzustehen, die alles andere als gerecht ist und viele Länder überhaupt nicht berücksichtigt. Es gibt intelligentere Arten, Widerstand gegen eine zunehmende Ausgrenzung in Deutschland selbst und in anderen Ländern zu leisten. Die Gesellschaft muß wieder mehr zusammenhalten, mehr miteinander sprechen und sich nicht immer gegenseitig anzugreifen. Dialoge müssen in allen gesellschaftlichen Gruppen stattfinden. Leider sind wir davon weit entfernt. Dialoge werden in Bildungseinrichtungen geführt. Auf der Straße und in den Arbeitsagenturen nicht.
Warum? Weil Bildung kostet und nicht gefördert wird.
Auf Deutschland bezogen, werden immer wieder neue Armutsstatistiken erhoben. Doch das reicht nicht. Armut erzeugt Aggressionen, und es ist nichts Neues, daß Linksextreme und Rechtsextreme das ausnutzen.
Wer aufgrund der sozial prekären Lage sich selbst schon aufgegeben hat, geht oft nicht mehr wählen. Die soziale Frage und deren Folgen tritt in der Politik immer mehr in den Hintergrund. Mit Ausnahme der Linkspartei.
Deshalb möchte ich mit meinem Beitrag einen Appell an die Sozial- und Politikwissenschaftler richten, sich nicht nur mit der Ausgrenzung auf kultureller Ebene und den gesundheitlichen Folgen auseinanderzusetzen, sondern auch nach den tieferen Ursachen und Wechselwirkungen dieser Ausschreitungen zu forschen. Denn bei Gewaltexzessen dieser Art wird es langfristig nicht bleiben.
Ich unterhielt mich vor einigen Jahren mal privat mit einem Polizisten. Dieser meinte mal: "Das wird nicht mehr ewig so gut gehen. Irgendwann knallt es auch in diesem Land mal so richtig!"
Was wäre als eine mögliche Konsequenz denkbar? Eine Beschränkung des Demonstrationsrechts? Das ist nämlich zu befürchten. Damit würde vielen Kritikern ein Grundrecht genommen. Alles im Interesse der inneren Sicherheit. Denn die Folgekosten solcher Ausschreitungen kommen im Falle von Hamburg noch dazu.
Der Zugang zu einer freien Bildung ist zweifellos ein wertvolles und wichtiges Gut, um den Frieden in unserer Gesellschaft zu gewährleisten. Doch die ist schrittweise immer weiter abgebaut worden. Bessere Bildungsmöglichkeiten für alle Menschen, ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres finanziellen Status, ihrer Religion und auch ihres Alters stehen nicht zuletzt auch in einem direkten Zusammenhang mit ihrer Gesundheit und dem Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gruppen.
Wer keine Chancen mehr für sich sieht, da er/sie zu alt ist und mittellos, erkrankt an Einsamkeit, einer Sucht und Depressionen oder gleitet in die Radikalität ab.
Denn Armut macht auch einsam. Wer vom öffentlichen Leben ausgegrenzt wird, ist in vielen Fällen anfälliger für die Versprechungen von Organisationen, die den Frieden nicht wollen.
Kulturelle Veranstaltungen, Sport, Ausflüge, das alles können sich Menschen, welche staatliche Hilfe beziehen müssen, nicht leisten. Ein Studium erst recht nicht. Wer zu alt ist, hat keinen Anspruch auf Bafög. Einen höheren Schulabschluß und eine richtige dreijährige Berufsausbildung sah die Arbeitsmarktpolitik der Agenda 2010 auch nicht vor. Dabei hatte die Regierung wiederholt das Fehlen von Facharbeitern und Akademikern beklagt!
Das rächt sich jetzt.
Es genügt nicht, diese Missstände festzustellen und zu kritisieren. Diese Entwicklungen ziehen weitaus größere Kreise, und die Krawalle in Hamburg gehören dazu.
Hildegard Jansen aus Lübeck