L.I.S.A.: Die Geschichte Europas nach 1945 war vor allem vom Gegensatz zwischen Ost und West geprägt. Der aktuelle Kompass zeigt nun vor allem einen Nord-Süd-Konflikt. Ist der neu oder war der schon immer da und lediglich wegen der 45-jährigen Ost-West-Eiszeit eingefroren?
Prof. Fahrmeir: Ich glaube, dass beide Charakterisierungen die Komplexität Europas unterschätzen. Weder der Nord-Süd- noch der Ost-West-Gegensatz sind dauerhaft in die Geschichte Europas eingeschrieben. Erstens haben sich die Verhältnisse zumindest von Norden und Süden langfristig gewandelt.
In Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit war der Mittelmeerraum die prosperierende Region, nicht der Norden. Das ändert sich erst seit dem 17. Jahrhundert, als Teile des Nordens und Westens Europas die anderen Regionen demographisch, ökonomisch, technologisch und militärisch dauerhaft hinter sich zurückzulassen beginnen. Zweitens sind die Kategorien zu grob: Es ging nur um Teile des "Westens" und "Nordens -
England, Frankreich, die Niederlande, deutsche Gewerbe- und Industrieregionen, Norditalien. Andere Regionen des "Westens" (oder des "Nordens") fielen relativ gesehen zurück: Spanien und Portugal, Süditalien, Schottland, Irland, die baltischen Länder, Finnland, Skandinavien. Manche dieser Länder sind weiterhin deutlich ärmer als der europäische Durchschnitt, andere haben mehr oder weniger dauerhaft den Anschluss an die Spitzengruppe gefunden.
Schließlich zogen sich die Bruchlinien, die man mit einem Nord-Süd oder Ost-West Gegensatz zu beschreiben sucht, immer durch politische Einheiten hindurch. Blickt man auf die Regionen, wird man feststellen, dass es in Europa Regionen relativ hoher Urbanisierung und relativ intensiver wirtschaftlicher Aktivität ebenso gibt wie Gegenden, in denen Städte lange eine geringere Rolle gespielt haben und die Wirtschaft länger am Rande des Subsistenzniveaus verharrte. Dabei liegen viele der über lange Zeiträume hinweg besonders wohlhabenden Regionen in einem Bogen zwischen etwa London und Mailand.
Kurz gefasst lautet die Antwort wiederum, dass Europa ein differenzierteres Bild bietet, als einfache Kontrastierungen suggerieren.