Franca Buss und Philipp Müller: Die französische Kunsttheoretikerin und Philosophin Marie-José Mondzain behauptet, dass die Gefahr des Bildes nicht in der Gewaltdarstellung, sondern in der fehlenden Distanz liege, in der Verschmelzung von Betrachter und Bild. Wie kann eine Distanzierung vom Gezeigten gelingen?
Thomas Helbig: Schon der Kunsthistoriker Aby Warburg hatte die Fähigkeit „bewußten Distanzschaffens“ zur Vorbedingung menschlicher Kultur und Zivilisation erhoben. Dabei griff er auf Überlegungen zurück, die er im Rahmen einer eigens projektierten Kunstpsychologie schon früh skizziert hatte. Besonders das dort vorangestellte Motto „Du lebst und thust mir nichts!“ sticht in diesem Zusammenhang heraus. Es könnte gar als vorzeitige Reaktion auf die titelgebende Frage von Mondzains Essay Können Bilder töten? (2002) verstanden werden. Denn wie Warburg gelangt auch sie dorthin, dass es eine unzulässige Vermischung der Ebenen bedeuten würde, Bilder mit Tätern gleichzusetzen. Vielmehr werde den Menschen wie Bildern gleichermaßen Gewalt angetan, wenn der Möglichkeit des Denkens, des „Denkraums der Besonnenheit“, wie Warburg es nannte, nicht genügend Platz eingeräumt werde. Deshalb ist es notwendig, eine Bildkritik zu entfalten, die einerseits die Mechanismen freilegt, mit denen Bilder operieren und die andererseits nach den Akteuren der Bildproduktion fragt – ohne blindlings deren Bildpolitiken zu verfallen. Warburgs Überlegungen zur Kunstwahrnehmung geben hierfür noch immer wertvolle Impulse. Sein Motto verweist einerseits auf die sinnliche Verlebendigung in der Kunsterfahrung und andererseits auf die Notwendigkeit der Abgrenzung durch das denkende Individuum – jedoch ohne dabei in einem stumpfen Dualismus aufzugehen. Es ist hinlänglich bekannt, dass Warburg angesichts des Eindrucks völliger Unüberschaubarkeit, wie er sich über die Nachrichten und Bilder während des Ersten Weltkriegs formierte, in eine tiefe Krise stürzte, die ihn in einen Zustand versetzte, in dem er von den am eigenen Leibe erfahrenen Atavismen, Urängsten und Phobien beherrscht wurde. Vor dem Hintergrund der plötzlich aus der Bildpresse herandrängenden Kriegsbilder sah er sich methodisch vor unlösbare Herausforderungen gestellt. Sein Versuch in Hamburg eine Bild- und Zeitungsausschnittsammlung (Kriegskartothek) zum Ersten Weltkrieg zu errichten reagiert auf dieses Ohnmachtsgefühl. Erst die Historisierung der Bildkultur seiner eigenen Gegenwart, die Erweiterung der Kunstgeschichte als Bildgeschichte und kulturwissenschaftliche Ikonologie eröffnete Perspektiven, die sich nicht erst aus heutiger Sicht als die Anfänge der politischen Ikonografie lesen lassen. Diese Zeichen der Zeit haben freilich auch andere erkannt. Walter Benjamins Einspruch für eine „Bild-Alphabetisierung“ und Bertolt Brechts und Ruth Berlaus gemeinsame Forderung einer „Sehschule“ waren allesamt Reaktionen auf die Anzeichen einer mehr und mehr durch Film und Fotografie geprägten visuellen Kultur.
Anna Stemmler: Vielleicht liegt die ‚Gefahr‘ des Bildes von Gewaltsituationen darin, dass es das Imaginäre als Reales denken lässt. Wenn ein Zivilisationsbruch auf eine Weise dargestellt wird, die uns Betrachtende in unserem Verkörpertsein affiziert, dann mag es sein, dass der Boden unter den Füßen ins Wanken gerät. Das kann allerdings durchaus eine angemessene Reaktion sein. Die Fähigkeit, sich als Betrachtende über ein Bild imaginär auf eine Situation einzulassen, eröffnet die Möglichkeit, im Gedankenexperiment eine Gefährdung durchzuspielen und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Eine Distanzierung, die sowohl die innere Sicherheit für ein solches Experiment der Vorstellung als auch den Unterhaltungswert von gewaltvollen Bildern ermöglicht, dürfte in den meisten Fällen schon darüber eintreten, dass das Bild als Bild erkannt wird. Wenige Bildbegegnungen sind tatsächlich so immersiv, dass sie für einen kurzen Moment die Realitäten des Bildes und der Betrachtenden ineinander kollabieren lassen. Die menschliche Sehnsucht nach Verschmelzung und entlastendem Kontrollverlust erstreckt sich nicht unbedingt auf Schreckensbilder, aber auch bei diesen sind Präsenzeffekte oder totale Immersion gar nicht so leicht zu erreichen, insbesondere, wenn wir über statische, nicht über Bewegtbilder sprechen. Die behauptete Bedrohung durch Bilder in Form der Auslöschung der Betrachterposition wäre vielleicht auch das Potenzial von Bildern, uns ganzheitlicher als der übliche Spracheinsatz auch auf der körperlichen Ebene zu ‚erwischen‘. Auch wenn ‚Versteinerungen‘ oder Verschmelzungen durch und mit Bildern punktuell auftreten können, sind sie kein haltbarer Dauerzustand. Das Außerhalb des Bildes mischt sich ein, der Bann wird gebrochen, die gewonnene Distanzierung geht u.U. nahtlos über in Desinteresse. Die spannende Frage wäre, wie nicht nur eine visual literacy bewirkt werden könnte, sondern auch der anschließende Einsatz dieser Werkzeuge für den produktiven Umgang mit Bilderfahrungen, etwa um die Machtstrukturen und involvierten Interessenlagen herauszuschälen, die hinter der gezeigten Gewalt stehen, aber auch, um ihrem spezifischen bildstrategischen Ausdruck nachspüren. Die Arbeit am Bild durch Mitdenken steht jedoch regelmäßig im Widerspruch zum eingeübten passiven Bildkonsum.
Anna Stemmler forscht und lehrt im Studiengang „Fotojournalismus und Dokumentarfotografie“ an der Hochschule Hannover. In ihrem Promotionsprojekt geht sie dem Einfluss von fotojournalistischen Aufnahmen auf den fiktiven Film seit 9/11 nach. Zusammen mit Karen Fromm und Sophia Greiff hat sie aktuell das Buch Images in Conflict / Bilder im Konflikt (Kromsdorf / Weimar: Jonas Verlag 2018) herausgegeben, das sich eingehend mit Bildern aus Krisen- und Konfliktsituationen beschäftigt.
Thomas Helbig ist Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung und arbeitet derzeit an einem Promotionsprojekt zu Jean-Luc Godards Videoessay Histoire(s) du cinéma (1988–98). Zuvor hat er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle der Aby Warburg Edition am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin gearbeitet. In seinem Vortrag ist er wissenschaftlichen und künstlerischen Strategien zum Umgang mit Gewaltbildern nachgegangen.
Franca Buss arbeitet seit Oktober 2017 an ihrer Dissertation über die Auswirkungen aufklärerischer Debatten um den Ort von Erinnerungsstiftung und Jenseitshoffnung in der Grabmalkultur des 18. Jahrhunderts (gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung).
Philipp Müller, momentan Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, beschäftigt sich seit Oktober 2017 im Rahmen seines Dissertationsprojekts „Gewalt-Bild-Kraft“ mit verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten von und Umgangsoptionen mit Gewaltfotos und -videos in der aktuellen Berichterstattung und der zeitgenössischen Kunst.
Anna Stemmler und Thomas Helbig haben die Fragen im schriftlichen Austausch beantwortet.