Hat man die Zeit der Kreuzzüge vor Augen, ist die Vorstellung von denen, die sich im Verlauf von fast 300 Jahren feindlich gegenüber standen, ziemlich schematisch: auf der einen Seite christliche Heere, auf der anderen muslimische. Doch so scharf voneinander geschieden waren die beiden Welten tatsächlich nicht. Vielmehr gab es bis ins 14. Jahrhundert hinein vielfältige Formen der Überlagerung beider Kulturen, des Austausches und der gegenseitigen Befruchtung. Entsprechend strahlten damals vielerlei Phantasien über das Morgenland weit in die abendländische Welt hinaus, die allerdings in der Regel mit der Realität kollidierten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bei der Vermittlung des Orients in den Okzident war der sogenannte Niederrheinische Orientbericht, den der Germanist und Mediävist Prof. Dr. Helmut Brall-Tuchel als erste allgemeine Orientkunde in deutscher Sprache bezeichnet und gerade in einer neuen Edition veröffentlicht hat. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Differenzierter, als man dies für das Zeitalter der Kreuzzüge gemeinhin annimmt"
L.I.S.A.: Herr Professor Brall-Tuchel, Sie haben unter Mitarbeit von Jana Katczynski, Verena Rheinberg und Sarafina Yamoah den „Niederrheinischen Orientbericht“ aus dem 14. Jahrhundert neu herausgegeben, übersetzt und kommentiert. Um was für einen Bericht handelt es sich hierbei? Und warum haben Sie sich diesem Text zugewandt, der lange kaum Beachtung fand? Was interessiert Sie daran?
Prof. Brall-Tuchel: Beim Niederrheinischen Orientbericht handelt es sich um den ersten Bericht in deutscher Sprache, der sich mit den politischen, geographischen, religiösen und ethnischen Zuständen im Vorderen Orient auseinandersetzt. Der erste Teil berichtet von den Völkern, Religionen und Herrschern. Den zweiten Teil könnte man als allgemeine Orientkunde bezeichnen. Die Vorstellungen vom Orient und die Einstellung zum Islam sind in der Überlieferung des Mittelalters weitaus differenzierter, als man dies für das Zeitalter der Kreuzzüge gemeinhin annimmt. Ein Grund dafür liegt in der regional sehr unterschiedlichen Perspektive auf den Orient. Der Niederrheinische Orientbericht entstand knapp 150 Jahre vor dem breiter überlieferten und besser bekannten Reisebericht des in Erkelenz begrabenen Ritters Arnold von Harff. Zusammen mit meinem Kollegen Folker Reichert von der Universität Stuttgart haben wir durch eine kommentierte Übersetzung des Textes und Ausstellungen in Grevenbroich, Erkelenz und Bedburg das Interesse an historischen Orientreisenden und Entdeckern aus der Region wieder wecken können. Das Orientthema hat mich seither so fasziniert, dass ich nun auch diesen älteren Bericht ediert und übersetzt habe, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Raum zwischen Köln und Aachen entstanden ist.