Aus Demonstrationen gegen die Umgestaltung des Istanbuler Gezi-Parks ist inzwischen ein breiter und anhaltender Protest gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans enstanden. Wie kam es dazu? Wer sind die Oppositionellen? Wir haben den Türkeiexperten Prof. Dr. Klaus Kreiser gefragt, der bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Bamberg war. Er veröffentlichte unter anderem das Buch „Atatürk: Eine Biographie“, das 2010 auch in der Türkei erschien.
"Viele wurden erst durch die Polizeigewalt herausgefordert"
L.I.S.A.: Herr Professor Kreiser, Sie haben sich intensiv mit der Geschichte der Türkei beschäftigt. Wenn Sie sich die aktuellen Ereignisse in der Türkei ansehen, wie würden Sie sie bezeichnen? Protest, Unruhe, Aufstand oder sogar der Anfang einer Revolution?
Prof. Kreiser: Erlebt habe ich drei Phasen der Entwicklung: Am Abend des 29. Mai überquerte ich die schmale Straße zwischen Divan-Hotel und Gezi-Park. Hier stand eine junge Frau zwischen den Fahrspuren und forderte die Autolenker mit einem improvisierten Plakat zum Hupen auf. Der Text auf dem Pappkarton verwendete ein nur im Türkischen mögliches Wortspiel: „Stehlt nicht unser Grün, gebraucht statt dessen die Hupe.“ Phase 2 wurde für mich am nächsten Morgen durch schmerzhaft spürbare Tränengaswolken unterhalb des Taksim-Platzes eingeleitet. Auf dem Weg zu einem Hotel an der Istiklal-Straße wurde ich Zeuge eines Katz und Maus-Spiels mit der Polizei. Die dritte Phase war erreicht, als es in der Nacht zum 1. Juni zu heftigen Zusammenstößen kam.
Die Demonstranten waren in der Mehrheit jüngere, politisch ungebundene Mittelschicht-Vertreter. Ich glaube, dass viele von ihnen erst durch die Polizeigewalt herausgefordert wurden. Ich habe aber auch schon am 30. Mai einzelne Parolen aus dem linken Repertoire gehört. Diese Stimmen waren ja nur wenige Wochen, am 1. Mai an einigen Stellen schon deutlich zu hören gewesen. Der Taksim-Platz war damals so weiträumig abgesperrt, dass dieser Teil der Innenstadt völlig gelähmt war.
Ihre Frage nach der Art der Vorgänge kann ich nur mit dem neutralen türkischen Wort „olay“ beantworten, es waren „Ereignisse“, die sicher in die Geschichtsbücher eingehen, vielleicht als die Gezi Park Olayları“.