Für Mendelssohn ist das Unterliegen bis Versiegen der ästhetischen Lust nur das letzte von drei Charakteristika der Trans-Ästhetik des Ekel. Ihr erstes Merkmal ist, daß es "eigentlich zu reden" in den Werken der schönen Künste gar "keine Gegenstände des Eckels" gibt und geben kann. Was "ausgeschlossen" werden soll, ist stets schon und von vornherein ausgeschlossen. Warum dann aber das Skandalon? Mendelssohn antwortet mit einer Theorie der gefährlichen Metapher. "Assoziativ" kann auf die Künste etwas übertragen werden, woran sie von sich aus "nicht den geringsten Antheil" haben. Nichts geringeres als eine Invasion der "allerdunkelsten Sinnen" steht auf dem Spiel - mit der Gefahr, daß leitende Merkmale des Ästhetischen kollabieren.
Wir wollen zusehen, wie diese widrige Empfindung natürlicher Weise zu entstehen pfleget. Welche Sinne sind derselben am meisten ausgesetzt? Mich dünkt der Geschmack, der Geruch, und das Gefühl. Jene beyde durch eine übermäßige Süßigkeit, und dieses durch eine allzu große Weichheit der Körper, die den berührenden Fiebern nicht genugsam widerstehen. Diese Gegenstände werden sodann auch dem Gesichte unerträglich, blos durch die Association der Begriffe, indem wir uns des Widerwillens erinnern, das sie dem Geschmacke, dem Geruche, oder dem Gefühle verursachen. Eigentlich zu reden aber, giebt es keine Gegenstände des Eckels für das Gesicht. Endlich kann die blosse Vorstellung eckelhafter Gegenstände, wenn sie lebhaft genug ist, an und für sich selbst schon Widerwillen erregen, und zwar, welches wohl zu merken ist, ohne daß sich die Seele die Gegenstände als würklich vorzustellen nöthig hat.
Hier zeigen sich schon handgreifliche Ursachen, warum der Eckel von den unangenehmen Empfindungen, die in der Nachahmung gefallen, schlechterdinges ausgeschlossen sey. Vors erste, ist der Eckel eine Empfindung, die ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach, blos den allerdunkelsten Sinnen, als dem Geschmack, dem Geruche und dem Gefühle zukommen, und diese Sinne haben überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste. Die Nachahmung in den Künsten arbeitet blos für die deutlichere Sinne, für das Gesicht und das Gehör. Das Gesicht aber, hat keine eigene ekelhafte Gegenstände; und das Gehör? Vielleicht ist der einzige Eckel, der für diesen Sinn statt findet, eine unmittelbare Folge von vollkommenen Consonanzen, die mit der übermäßigen Süßigkeit in Ansehung des Geschmacks einige Aehnlichkeit zu haben scheinet. [41]
Das Argument ist seit der Antike vielfach wiederholt worden: die Erfahrung des (Kunst-)Schönen verlangt Distanz; Gemälde, Dichtungen und Musik werden weder geschmeckt noch gerochen noch betastet. Selbst etliche Sprachen treffen diese Unterscheidung, indem sie statt eines "schön schmecken" ein "gut schmecken" und statt eines "schön riechen" ein "gut riechen" vorschreiben. Ekel figuriert primär als eine Erfahrung der Nahsinne: etwas schmeckt ekelhaft (Standardbeispiel des 18. Jahrhunderts: das allzu Süße); etwas fühlt sich ekelhaft an (beliebte Beispiele: allzu weich, wabblig, breiig-klebrig); etwas riecht ekelhaft (wobei der Geruch zwar einen weiteren Aktionsradius als Tastsinn und Geschmack hat, aber gleichermaßen einen physischen Eintritt des 'Objekts' ins Riechorgan verlangt). Was Ekel erregt, muß nah sein, ja diese Nähe ist selbst wesentlicher Teil der Ekelempfindung. Sie ist, wie der Phänomenologe Aurel Kolnai schreibt, "nicht lediglich Anlaß, sondern zugleich ein Mit-Objekt des Ekelgefühls", bildet "die Brücke zwischen Erreger und Subjekt-Person des Ekels" und nimmt daher "in der Problematik des Ekels eine zentrale Stelle ein".[42] Kant spricht davon, daß das Ekelhafte "sich [uns] aufdränge".[43]
Mendelssohns Opposition der genuin Ekel-fähigen und der "eigentlich" Ekel-unfähigen Sinne überkreuzt das Merkmal Nahsinne vs. Distanzsinne mit der Opposition von dunklen vs. deutlichen Sinnen. Diese Opposition wiederum bündelt eine ganze Serie anderer Unterscheidungen: unmittelbar materiell, substantiell und 'real' vs. intellektvermittelt, formorientiert, sprachnäher und insofern eher 'ideal'; Resistenz gegen Analyse vs. (unendliche) Analysierbarkeit; konkret vs. abstrakt. Angesichts dieser Merkmale eröffnet die Unterscheidung der Ekel-fähigen von den Ekel-fernen Sinnen durchaus ambivalente Wertungen. Einerseits ordnet die Ästhetik des 18. Jahrhunderts, mit der großen Ausnahme Herders, die Erfahrung des Schönen den Distanzsinnen als den "oberen Sinnen" zu. Im Vergleich zu den Leistungen des reinen Intellekts büßen Gesicht und Gehör zwar an Deutlichkeit ein, was sie an Sinnlichkeit und Beziehung auf Lust gewinnen. Verglichen mit den 'dunklen' Nahsinnen "Geschmack, Geruch und Gefühl" stehen sie indes der 'Helligkeit' und 'Deutlichkeit' des Verstandes weitaus näher. Andererseits markiert die Terminologie der "dunklen" Nahsinne keineswegs nur ein Defizit an Intelligibilität. Aus materialistisch-sensualistischer Perspektive und im Sinne der Lehre von den "dunklen Vorstellungen" der Seele gilt die Verstandesferne umgekehrt als um so größere Nähe zum unverfügbaren 'Grund' unseres körperlichen und seelischen Lebens, als sinnlicher, a-thetischer Realitätsbeweis und Ausweis einer Verankerung in den Tiefen der menschlichen Seele.[44] Was Mendelssohn eher perhorresziert, kann Herder daher wenig später - und unter direktem Rekurs auf Mendelssohns Ekel-Reflexionen - in die Bestimmung der schönen Form vom Nahsinn des Tastens her einschreiben; die Beziehungen des Schönen zum Ekel werden dadurch nochmals kompliziert. Quer zu den umstrittenenen Wertungen der dunklen und deutlicheren Sinne gilt jedoch für alle Autoren die Abhebung der Kunst von den "eigentlichen" Ekel-Sinnen und damit Mendelssohns Satz: "Vors erste, ist der Eckel eine Empfindung, die ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach, blos [...] dem Geschmack [und] dem Geruche [...] zukommen, und diese Sinne haben überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Kunst".
Die Konsequenz ist zwingend: "eigentlich zu reden, giebt es keine Gegenstände des Ekels für das Gesicht" und damit auch nicht für die schönen Künste. Wiederholt bemerken die Autoren denn auch, daß 'echte' Beispiele für das, was aus der Kunst ausgeschlossen werden soll, kaum bis gar nicht zu finden sind. Nach Herder hat schon die "Natur selbst keiner unangenehmen Empfindung solch eine enge Sphäre gegeben als dem [...] Ekel"; noch weitaus enger sei diese Sphäre in der Kunst. So sehr unterstreicht Herder die Rarität, ja das Nicht-Sein des auszuschließenden Ekels, daß er gar die fetischhafte Formel von einem "wahren Ekel" prägt.[45] An dessen unerhörter Seltenheit gemessen, wird die gewöhnliche Rede vom Ekel damit als Rede von 'unwahren' Simulakren (dis)qualifiziert, als die Rede von gespenstischen Widergängern eines Originals, das selbst wenig mehr als ein Phantom ist. Nur als Derivat, als uneigentliche "Association", als Übertragung (Metapher), als figurative Erinnerung an sich selbst kann der Ekel also ins Feld der Künste hineinragen. Was prädestiniert dieses uneigentliche Derivat, diese "weite Zurückerinnerung"[46] an "wahren" Ekel dazu, alle Abwehrkräfte des Ästhetischen auf sich zu ziehen, ja geradezu das Tabuierte sein?
Die Antwort findet sich in der Konfiguration des ersten mit Mendelssohns zweitem Merkmal des Ekels, das er selbst als das wichtigste ausgibt. Auf eine Formel gebracht: die Metaphern des Ekels sind so gefährlich, weil sie zugleich Metonymien der "allerdunkelsten Sinne" sind. Mit den Übertragungs-Derivaten des Ekels gelangt gleichfalls eine "Zurückerinnerung" an das dunkle Sinnes-Substrat 'wahrer' Ekelempfindung ins lichte Feld der schönen Künste. Diese "niederen Sinne" - bzw. ihre Simulakren - bringen eine weitere Leitdifferenz ästhetischer Erfahrung zum Kollaps: die von Natur und Kunst. Ob das Wohlschmeckende und Gutriechende ein erlesenes Gericht oder Rosenduft, eine künstlich zubereitete oder eine natürliche Materie ist, bleibt für die Lustentwicklung von Geschmack und Geruch gleichgültig; für Tastempfindungen gilt - cum grano salis - ähnliches. Diese Sinne sind stumpf gegen die ästhetische Täuschung, weil sie die Unterscheidung gar nicht treffen, deren Suspens und Vertauschung - bei Aufrechterhaltung der Unterscheidung - von der rationalistischen bis zur Kantschen Ästhetik die Wirkungsweise der ästhetischen Erfahrung auszeichnet: die Künste täuschen (illudieren), weil sie tauschen, weil sie das künstliche Zeichen wie die 'natürliche' Anwesenheit des Bezeichneten, weil sie ihre eigene Künstlichkeit wie Natur erscheinen lassen. Kunst, so das rationalistische Täuschungsmodell, läßt uns ihre eigenen Zeichen vergessen und scheinbar unmittelbar den dargestellten Gegenstand selbst intuieren.[47] Selbst ein Dichter muß uns, so Lessing, im Sinne einer transformierten Rhetorik der Vergegenwärtigung (enargeia, Hypotypose), "glauben" machen, Helena oder den Schild des Achill unmittelbar zu "sehen".[48] Auch Kant variiert den altehrwürdigen Topos ars est celare artem, obwohl sein Darstellungsbegriff mit dem rationalistischen Modell transparenter Repräsentation ausdrücklich bricht: "Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht."[49] All diesen Modellen der Täuschung durch (Ver-)Tauschen und damit der formalen Struktur der ästhetischen Erfahrung entziehen die niederen Sinne die Voraussetzung. Denn sie besetzen die zu tauschenden Pole Natur und Kunst, Realität und Fiktion gar nicht mit einem Unterscheidungswert:
Jedoch ich finde noch einen weit wichtigern Unterschied zwischen dem Eckel, und denjenigen unangenehmen Empfindungen, die in der Nachahmung gefallen. Die Vorstellungen der Furcht, der Traurigkeit des Schreckens, des Mitleides u.s.w. können nur Unlust erregen, in so weit wir das Uebel für würcklich halten. Diese können also durch die Erinnerung, daß es ein künstlicher Betrug sey, in angenehme Empfindungen aufgelöset werden. Die widrige Empfindung des Eckels aber erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf die blosse Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für würklich gehalten werden, oder nicht. Was hilfts dem beleidigten Gemüthe also, wenn sich die Kunst der Nachahmung noch so sehr verräth? Ihre Unlust entsprang nicht aus der Voraussetzung, daß das Uebel wircklich sey, sondern aus der blossen Vorstellung desselben, und diese ist wirklich da. Die Empfindungen des Eckels sind also allezeit Natur, niemals Nachahmung. [50]
Ästhetische Täuschung verwirrt die Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit, Ekel läßt sie kollabieren. Indem er Mendelssohns Bestimmung aufgreift, hat Kant diese Pointe zur völligen Deutlichkeit gebracht. "In dieser sonderbaren, auf lauter Einbildung beruhenden Empfindung" - so reformuliert Kant die Dreiheit von Ekelempfindung, "blosser Vorstellung" und widerstandslos schaltender Einbildungskraft - "wird die künstliche Vorstellung des Gegenstandes von der Natur dieses Gegenstandes selbst in unserer Empfindung nicht mehr unterschieden, und jene kann alsdann unmöglich für schön gehalten werden"[51] - sofern nämlich "schön" gerade das komplexe Prozessieren der vom Ekel unterlaufenen Unterscheidung meint. "Auf lauter Einbildung" zu beruhen, impliziert hier keineswegs, wie Derrida nahezulegen scheint,[52] eine positive Behauptung von Irrealität oder Nicht-Existenz des "Ekel". Angesichts des Zusammenbruchs der Natur-Kunst-Unterscheidung im Ekel konstatieren die von Mendelssohn parallel verwandten Formulierungen, Ekel sei "allezeit Natur" und er sei "blosse Vorstellung", vielmehr die gleiche Suspension des Realitäts- und damit auch des Kunstzeichens, nur jeweils von der anderen Seite der kollabierten Unterscheidung aus.
Johann Adolf Schlegel hatte bereits notiert: "In den Künsten hat der Ekel gleiche Wirkungen als in der Natur. Also lehret, gegen die Erwartung, [...] die Erfahrung".[53] Schlegel weiß dafür nur ganz generell die "Gewaltsamkeit" der Ekelerfahrung verantwortlich zu machen. Mendelssohn bestimmt diese Gewaltsamkeit näher als das Durchschlagen, ja als das Kassieren einer Differenz und verwendet den Begriff der Natur ("allezeit Natur") asymmetrisch als die Einheit der Nicht-Unterscheidung von Natur und Kunst, von Wirklichkeit und Illusion. Diese Hyperrealität des Ekels führt auf eine Analogie. Bei Freud ist es das Unbewußte, das ohne "Realitätszeichen"[54] operiert, stets ein unaufhellbares Dunkel bewahrt und doch die 'reale' Triebbasis allen Handelns ist. Ekel unterhält nicht nur - und keineswegs allein bei Freud - enge Beziehungen zu diesen unbewußten Trieben, indem er ihrer Verdrängung eine (Un-)Form gibt und so das Triebschicksal in Erziehung und Zivilisation markiert. Er partizipiert aus der Sicht der Ästhetik auch an einem Realen, das die Unterscheidung von "würklich" und "künstlicher Betrug" durchschlägt. Angesichts seiner Empfindungen gilt statt des cartesianischen "Ich denke, also bin ich" der Satz "Es ekelt mich, also ist etwas real".
Das Fazit "die Empfindungen des Eckels sind also allezeit Natur, niemals Nachahmung" kommt nur zustande, indem Mendelssohn eine Annahme macht bzw., wie Schlegel, auf eine "Erfahrung" sich beruft, die alles andere als selbstverständlich ist: "die widrige Empfindung des Eckels erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf die blosse Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für würklich gehalten werden, oder nicht."[55] Für "die Vorstellungen der Furcht, der Traurigkeit, des Schreckens, des Mitleids usw." macht es unzweifelhaft einen Unterschied, ob wir "das Uebel für würcklich" oder nur für einen "künstlichen Betrug" halten. Warum soll das für die Ekelempfindung nicht gelten? Warum soll ausgerechnet eine Empfindung, deren Basis die dunklen, 'substanz'- und realitätsverbundenen Nahsinne sind, kein "Realitätszeichen" (Freud) kennen, sondern in völliger Indifferenz gegen die Unterscheidung von wirklich und imaginär durch eine "blosse Vorstellung" mit gleicher Gewalt ausgelöst werden wie durch ein 'natürliches' Objekt? Die Beziehungen von Ekel und Einbildungskraft unterliegen nach Mendelssohn offenbar einer doppelten Logik von Ausschluß und Inkorporation. Einerseits gehört das extreme Erfahrungsmodell des Ekels nur den "allerdunkelsten Sinnen" zu und ist damit streng geschieden von den Bereichen distanz- und erkenntnisvermittelter Vorstellungen. Andererseits vermag die Einbildungskraft einen Wiedereintritt des Ekels in sein Anderes zu vollbringen: selbst eine "blosse Vorstellung" von Ekelhaftem aktiviert dann im Modus der uneigentlichen "Association" und der "Zurückerinnerung" die Struktur der Indifferenz gegen die Natur-Kunst-Differenz und läßt so auch die Unterscheidung von "Wirklichkeit" und "Nachahmung" implodieren. Die Möglichkeitsbedingungen schöner Repräsentation werden damit eingeklammert, wenn nicht zerstört.[56] Deshalb ist "Ekel", diese dunkle, substantielle, analyseresistente Realitätsempfindung, zugleich eine so gefährliche Metapher im Feld der 'höheren' und 'deutlicheren' Sinne. Das Ästhetische und der Körper des klassischen Schönheitsideals konstituieren sich durch den Ausschluß nicht allein und nicht so sehr des "wahren Ekel", sondern der eingebildeten, der vorgestellten Metaphern des Ekels.
Der Funktionskreis des Ekels ist kurz, schnell und erlaubt keine reflexive Schockabwehr: zwischen dem ekelhaften Gestank und der Ekelempfindung gibt es keine Mittelglieder und kaum Möglichkeiten der Konditionierung und Intervention. Zwar sind Ekelreaktionen über größere Zeiträume sowohl er- wie verlernbar und keineswegs eine zeitlose Naturgegebenheit. Aber der Anteil intellektueller Verarbeitung und mithin auch: relativer Distanzierung ist weitaus geringer als bei Furcht, Schrecken, Trauer und Mitleid; ein weiterer Grund, warum diese "ästhetisch" darstellungsfähig sind, jener aber nicht. Die weitgehende Abwesenheit längerer intellektueller Reflexionsketten im Regelkreis des Ekels begründet die Gewaltsamkeit dieser Empfindung. Sie eröffnet zugleich ein völlig unbehindertes Walten der Einbildungskraft mit dem Effekt des Kurzschlusses von "würcklichem Übel" und "blosser Vorstellung". Die unbehinderte Macht der "Association" läßt auf die "blosse Vorstellung" die gleiche Wirkung erfolgen wie auf einen wirklichen Anlaß,[57] während für die täuschungsfähigen gemischten Empfindungen das Gesetz einer ästhetisch-reflexiven Abschwächung der wirklichen Unannehmlichkeit gilt. Auch darin erweist sich die Unvereinbarkeit mit der Zeitlichkeit der Reflexion als entscheidend für den ästhetischen Defekt des Ekels. Als plötzliche und gewaltsame Antwort auf eine Invasion unserer Organe läßt er einfach keine Zeit für eine eingehende distanzierte Betrachtung. Er ist eine ebenso entschiedene wie entscheidende Reaktion, während ästhetische Erfahrung, wie sie seit etwa 1750 gedacht wird, gerade eine Unentscheidbarkeit und Unendlichkeit der Reflexion eröffnet.
Von der überfaktischen Realitätsempfindung des Ekels her ergibt sich eine weitere Möglichkeit, der bloßen Opposition zum Schönen eine Konvergenztendenz der beiden Opposita zur Seite zu stellen. Das Schöne soll täuschen, es soll als künstliches Zeichen die Illusion wirklicher Anwesenheit eines Abwesenden erzeugen; je täuschender, desto realer, desto 'natürlicher' der Effekt der schönen Vorstellung. Das Ekelhafte bewirkt aber "allezeit", auch als "blosse Vorstellung", diesen Effekt von "Natur". Also markiert das Ekelhafte zugleich jenen Wert, wo das Illusions-Ideal des Schönen garantiert und ohne Anstrengung, nämlich "allezeit" erreicht wird. Damit aber hört es auf, eine auszeichnende Darstellungsleistung der Kunst zu sein. Insofern bezeichnet die Chiffre des "Ekel" nichts anderes als die differenzlos realisierte - und darin sich selbst vernichtende - Täuschungsleistung des Schönen selbst.[58] Wie das unvermischt Schöne, rein sich selbst überlassen, auf Sättigungsekel an 'lauter Süßigkeit' führt, so kennt auch die gelingende ästhetische Illusion realer Präsenz einen immanenten Umschlag ins Ekelhafte - sobald nämlich die Illusion absolut wird und nicht mehr durch ein mitlaufendes Bewußtsein ihres Illusionscharakters, durch ein residuales Bemerken der Kunstdifferenz gebrochen ist. Mendelssohn sieht diesen Umschlag schöner Täuschung in Ekel insbesondere in der Bemalung von Plastiken erreicht: "Ich glaube, die schönste Bildsäule, von dem größten Künstler bemalt, würde nicht ohne Eckel betrachtet werden können." Während sonst die Illusion der "Natur" Ausweis einer schönen Vorstellung ist, schlägt in dem Maß, in dem nichts mehr die "Aufmerksamkeit" auf die Künstlichkeit des Phänomens "zurück ruft", das Gesetz des Gelingens in ein Gesetz ekelhaften Scheiterns um: "bemalte Bildsäulen sind desto unangenehmer, je näher sie der Natur kommen. [...] In Wachs getriebene Bilder in Lebensgröße und natürlicher Kleidung, machen einen sehr widrigen Eindruck."[59] Oder mit Hegels Worten: "Es gibt Porträts, welche, wie geistreich ist gesagt worden, bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind".[60] Auch insofern gilt: das Ekelhafte ist nicht allein der maximale Gegenwert zum Schönen, sondern das differenzlose Schöne selbst, die reine Süßigkeit oder die absolut gelingende Täuschung von "Natur" und realer Präsenz - eine absolut gelingende Täuschung, die zugleich aufhört Täuschung zu sein, weil sie im Kollaps der Oppositionen jede Kunstdifferenz ebenso ausstreicht wie jedes distinktive Realitätszeichen.
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in: POETICA. 29 (1997), S. 405-431.
Nach: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we03/mitarbeiter/professoren/menninghaus/index.html, 18.1.2011