Mit sich selbst eins sein ist der Zustand, der als Identität begriffen wird. Aber ist das als Mensch überhaupt möglich? Können wir Zustände einfrieren? Sind wir als 20-jährige diejenigen, die wir auch als 50-jährige sind? Identität und Wandel wären so gesehen zwei sich ausschließende Konzepte. Der Historiker Prof. Dr. Alfred Grosser, selbst Hausherr mehrerer Identitäten, hat sich der aktuellen Frage, was die Identität eines Menschen überhaupt ausmacht, in einem neuen Buch angenommen. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Jude bin ich nur, wenn Juden verfolgt werden"
L.I.S.A.: Herr Professor Grosser, Sie haben ein neues Buch veröffentlicht, das den Titel „Le Mensch“ trägt. Der Untertitel macht deutlich, um was es geht: Die Ethik der Identitäten. Bevor wir auf das Buch und Ihre Überlegungen zum Thema „Identität“ konkret eingehen – was hat Sie dazu bewogen, sich mit Identität bzw. mit Identitäten zu beschäftigen? Welche Ausgangsbeobachtung hat Sie dazu inspiriert?
Prof. Grosser: Die Frage nach den Identitäten beschäftigt mich seit Jahrzehnten, sei es nur, weil es für mich nie DIE Deutschen gegeben hat, auch als ich im August 1944 durch die BBC erfuhr, dass die alten Insassen des Lagers Theresienstadt nach Auschwitz transportiert worden waren, darunter die Schwester meines Vaters, Tante Ida und ihr Mann Onkel Kurt, ein Berliner Arzt, der nicht hatte auswandern wollen. Der Begriff der Kollektivschuld ist von mir immer verworfen worden. Auch habe ich mir immer die Frage gestellt, wieso, mit acht Jahren aus Frankfurt nach Saint Germain en Laye (bei Paris) gekommen, ich so schnell habe ein voller Franzose werden können - schon vor der Naturalisation von 1937. (Unser ehemaliger Premierminister Manuel Valls ist Franzose erst seit 1982, die Bürgermeisterin von Paris seit 1973, die Erziehungsministerin seit 1995…) Auch fühlte ich mich nie als voller Jude, obwohl die vier Großeltern und die zwei Eltern Juden waren. Ich wurde schon in jungen Jahren, laut einem Journalisten, ein "jüdisch geborener, mit dem Christentum geistig verbundener Atheist." Jude bin ich nur, wenn Juden verfolgt werden.