Der Begriff von Freundschaft ist zu keiner Zeit eindeutig gewesen. Ambivalenzen sind beim Verständnis von dem, was einen Freund und was eine Freundin ausmacht, eher die Norm als die Abweichung. Das gilt möglicherweise in digitalen Zeiten umso mehr, wenn neue Formen der Kommunikation auch Beziehungen unter Menschen verändern, und wenn ein privatwirtschaftlicher Konzern wie Facebook die Begrifflichkeit "Freund/Freundin" zum Kernbestandteil seiner Unternehmenspolitik macht. In diesem Netzwerk wird die Anzahl von "Freunden" zur neuen Benchmark - je mehr man hat, umso höher Reichweite und Ansehen. Aber kann man hier überhaupt noch von Freundschaft sprechen? Sind Facebook-Freunde echte Freunde? Der Kulturwissenschaftler Dr. Björn Vedder sieht das so und hat darüber ein Buch geschrieben. Wie er zu dieser Einschätzung kommt und was Freundschaft heute ist und früher einmal war, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Das versprochene Glück will sich nicht so recht einstellen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Vedder, Sie haben ein Buch über Freundschaft in Zeiten von Facebook geschrieben: „Neue Freunde“, heißt der Band. Bevor wir auf einzelne Aspekte genauer eingehen – was hat Sie zu diesem Buch bewogen? Welche Beobachtung und Überlegung ging dem Buchprojekt voraus?
Dr. Vedder: Ich hatte mich zunächst ganz allgemein mit Fragen nach dem guten Leben beschäftigt, also damit, was die Philosophie dazu sagt, und damit, was sich Menschen heute darunter vorstellen. Dabei sind mir eine gewisse Trennung oder zumindest Entfernung aufgefallen, die für die praktische Philosophie zwar nicht unüblich sind, die ich in diesem Fall jedoch bedauerlich fand. Denn wenn Menschen heute gefragt werden, was ihnen im Leben am wichtigsten ist, dann nennen sie vor allem Freundschaft und Liebe. Zuletzt hat die Freundschaft die Liebe sogar vom Thron gestoßen, so dass der Eindruck entsteht, wir setzten für unser Lebensglück auf keine andere Beziehung und kein anderes Gut so große Hoffnungen wie auf unsere Freundschaften. Viel stärker noch als früher gelten sie heute als das Größte, Schönste und Beste, was es gibt auf der Welt.
Doch obwohl wir Freundschaften so hoch schätzen und viele von uns viele Freunde haben, will sich das versprochene Glück nicht so recht einstellen. Im Gegenteil, rezente kulturphilosophische und -soziologische Diagnosen konstatieren vielmehr eine Müdigkeit, man selbst sein zu müssen, eine Verstrickung in narzisstische Selbstbespiegelung und ökonomische Selbstausbeutung, eine Überforderung von der eigenen Freiheit und die Verhärtung des »Unbehagens an der Moderne« zu einer ernsthaften Depression. Bedauerlicherweise hatte dem die philosophische Literatur, so weit ich sah, nichts entgegenzusetzen. Freundschaft und Liebe spielen in der praktischen Philosophie keine große Rolle und wo sie es tun, ist der Ansatz eher normativ oder historisch. In der Soziologie ist das anders, wo ich, zumindest mit Blick auf die Liebe, in den Arbeiten von Eva Illouz wichtige Anregungen gefunden habe, auch über Freundschaften nachzudenken, und ich habe mich gefragt, ob sich ihre Beschreibung der Liebe als einer Beziehung, in der sich unsere Suche nach Anerkennung essentialisiert, nicht auch für die Freundschaft fruchtbar machen lässt.