Jeremy Bentham (1748-1832) und Karl Marx (1818-1883) werden für gewöhnlich als Antipoden gelesen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Rezeption Benthams durch Marx, der den englischen Sozialreformer als ideologischen Statthalter der Bourgeoisie und deren Besitzverhältnisse ausmachte. Marx dagegen stellte die historische Legitimation der bürgerlichen Herrschaft über Staat und Markt radikal in Frage. Doch jenseits dieser Frontstellung einte beide Denker die Kritik an der jeweils bestehenden Gesellschaftsordnung und deren Ideologie. Der Politikwissenschaftler Dr. Gregor Ritschel von der Universität Halle-Wittenberg hat im Rahmen seines Dissertationsprojekts Bentham und Marx neu gelesen und deren Denken auf Gemeinsamkeiten untersucht. Wir haben ihn zu seinen Ergebnissen und den daraus möglichen Rückschlüssen auf gegenwärtige Verhältnisse befragt.
"Eine fortlaufende Kritik an den jeweils politischen Zuständen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Ritschel, Sie haben sich im Rahmen Ihres Dissertationsprojekts mit zwei ideengeschichtlich bzw. philosophisch konträren Denkern befasst: mit Jeremy Bentham sowie mit Karl Marx. Bevor wir zu einigen Details kommen, was hat Sie bewogen, beide komplementär zu lesen?
Dr. Ritschel: Beider Grundanliegen erscheint mir von einer ähnlichen Struktur geprägt. Bentham wollte das „Glück der größten Zahl“ zum Leitprinzip der Politik machen und es gegen die Vormacht der Aristokratie in Stellung bringen. Wenige Jahrzehnte später glaubte Karl Marx, dass die bürgerliche Eigentumsordnung sowie die kapitalistische Produktionsweise dem „Interesse der Mehrheit“ entgegenstehe. Damit war in erster Linie die folgenschwere Trennung der Arbeiter von dem Produktionsmittel und die damit einhergehende Entfremdung gemeint. Ferner seien aber auch die industriellen Kapitalisten letztlich Gefangene einer unerbittlichen Konkurrenzsituation. Ich sehe hier eine fortlaufende Kritik an den jeweils etablierten politischen Zuständen.
Das Spannende ist nun aber der gleichzeitig bestehende Gegensatz: Marx polemisierte heftig gegen Bentham, der ihm als Ausdruckträger des Establishments bzw. des bürgerlichen Denkens galt. Doch wer sich besonders heftig gegenüber etwas oder jemandem äußert, ist oft im Kern von jener Sache berührt. Besonders polemisch äußerte sich Marx immer dann, wenn er seine sozialistischen Zeitgenossen angriff. Er übte wie er selbst einst formulierte „Kritik im Handgemenge“ um seine Konkurrenten auf dem Feld zu schlagen. Aufrufe für mehr Liebe und Brüderlichkeit oder für spontane Bewusstseinswandlungen wurden aus der marxschen Sicht nicht der verstrickten Lage gerecht. Ich denke Bentham galt ihm in ähnlicher Weise als ein ungeliebter Nachbar aus der unmittelbaren Vorgeschichte. Dieser ging ihm auf die Nerven, weil er aus seinen, auch aus der marxschen Sicht durchaus richtigen, Analysen die falschen Schlüsse zog und mit großem Eifer an Reformprojekten bastelte. Im Manifest von 1848 spricht Marx von einem philanthropischen „Bourgeoissozialismus“, der soziale Missstände abschaffen wolle, um soziale Kämpfe und politische Veränderungen zu vermeiden. Polemisch fügt Marx hinzu, dass dieser selbst Zellengefängnisse im Interesse der arbeitenden Klasse fordere. Bentham galt für Marx sicher als ein solcher Bourgeoissozialist.