Die Debatte um das historische Erinnern an den deutschen Sportfunktionär Carl Diem entzündet sich vor allem an einer Frage: War Carl Diem von antisemitischer und nationalsozialistischer Gesinnung? Hat er als Antisemit gewirkt? Die Experten sind sich darin nicht einig. Der Sportwissenschaftler Prof. Dr. Michael Krüger von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ist sich jedenfalls sicher: Carl Diem war weder Antisemit noch Nazi. Wir haben ihn dazu befragt.
"Ein ehrgeiziger Aufsteiger aus bescheidenen Verhältnissen"
L.I.S.A.: Herr Professor Krüger, Sie haben sich als Sportwissenschaftler intensiv mit der Person und dem Wirken des deutschen Sportfunktionärs Carl Diem beschäftigt. Welche Bedeutung hat Carl Diem für den organisierten deutschen Sport?
Prof. Krüger: Diem war zweifellos eine wichtige Figur und Persönlichkeit des deutschen und olympischen Sports. Er steht einerseits dafür, dass wir heute den Sport als einen eigenständigen Bereich von Kultur und Gesellschaft wahrnehmen. Andererseits steht Diem für die Verbindung der nationalen Sportentwicklung zur internationalen, olympischen Bewegung. Dafür steht sein Engagement für die Olympischen Spiele von Berlin, die er zuerst 1916 hätte organisieren sollen. Nachdem daraus wegen des ersten Weltkriegs nichts geworden war, konnte er diesen Traum aller deutschen Sportler 1936 in seinem Amt als hauptamtlicher Generalsekretär der Spiele von 1936 realisieren.
Diems Verdienst besteht darin, dass er in Deutschland seit der Kaiserzeit und dann vor allem zur Zeit der Weimarer Republik eine Sportorganisation aufgebaut hat, deren Sinn und Strukturen im Kern bis heute bestehen. Er trat für starke Sport-Fachverbände und eine Dachorganisation des Sports in Deutschland ein, die politisch, konfessionell und weltanschaulich prinzipiell neutral und unabhängig sein sollten. Nur solche Verbände schienen ihm anschlussfähig an den internationalen olympischen Sport zu sein. Heute hat sich das Fachverbandsprinzip neben dem Prinzip der Landessportbünde durchgesetzt.
Aber man darf die Bedeutung Diems auch nicht zu hoch hängen. Er war ein ehrgeiziger Aufsteiger aus bescheidenen kleinbürgerlichen Verhältnissen, der es durch den Sport schaffte, in der „sationsfaktionsfähigen Gesellschaft“, wie Norbert Elias dies nannte, anzukommen. Er wurde nie ins Internationale Olympisch Komitee aufgenommen und stand zu keiner Zeit und in keinem der vier Regime, in denen er im und für den Sport wirkte, in der ersten Reihe. Selbst als Professor und Rektor der Deutschen Sporthochschule in Köln, ein Amt, das er von 1947 bis zu seinem Tod 1962 bekleidete, schaffte er es nicht, dass die Sporthochschule als gleichberechtigte Universität anerkannt wurde. Dies geschah 1971, nachdem die Universitäten reformiert worden waren. Diems Kampf um die Anerkennung des Sports als wertvolles Bildungs- und Kulturgut in Staat und Gesellschaft, den er sein ganzes Leben in Wort und Schrift führte, war auch sein eigener Kampf um Anerkennung und Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft. Ich habe mich immer gefragt, was ihn wohl getrieben hat, nicht nur ständig alles aufzuschreiben, was er erlebt und was ihn bewegt hat, sondern das Geschriebene auch peinlich genau für die Nachwelt aufzubewahren, so dass ein gewaltiger Nachlass zurückblieb. Damit kann der Eindruck entstehen, als ob Diem der Sport selbst gewesen sei. Aber das ist natürlich falsch. Er war nur eine, wenn auch wichtige Person in der Sportentwicklung. Wir sollten uns trotzdem in angemessener Form an ihn und an das erinnern, wofür er stand; ebenso wie wir an andere Personen und Ereignisse erinnern sollten, die ebenfalls ihren Teil zur Entwicklung des Sports beigetragen haben. Ich denke beispielsweise an Fritz Wildung, den Kollegen Diems als Generalsekretär der sozialdemokratischen Arbeitersportbewegung, oder an Ludwig Wolker, der für den konfessionell gebundenen Sport steht. Ich hebe diese drei Namen – Diem, Wildung und Wolker – deshalb hervor, weil sie trotz aller Unterschiedlichkeit für die Entwicklung des Sports zu einem kulturell als sinn- und wertvoll anerkannten Bereich unserer Gesellschaft beitrugen. Der Deutsche Sportbund hatte in ihrem Namen Preise vergeben. Heute ist das nicht mehr der Fall.
Jedenfalls ist es völlig unangemessen und irreführend, Diem beispielsweise mit Hindenburg zu vergleichen, wie dies der Diem-Biograph Frank Becker getan hat. Diem war eine kleine Nummer, und der Sport war kein Thema, mit dem sich die Eliten ernsthaft auseinandersetzten. Dieser schiefe Vergleich zeigt, wie sehr Herrn Becker die Maßstäbe entglitten sind bzw. wie sehr er sich von seinem Thema hat überwältigen lassen, dass es ihm nicht mehr gelingt, Diem und seine Rolle in Sport, Kultur und Gesellschaft zu relativieren.
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