Mit dem deutschen Kolonialismus werden üblicherweise Länder in Afrika wie beispielsweise das heutige Namibia, ehemals Deutsch-Südwestafrika, oder auch Kamerun und Togo assoziiert. Doch inwieweit bemühte man sich um Kolonien in Osteuropa und können die deutschen Ambitionen gen Osten auch als eine Form des Kolonialismus verstanden werden? Christoph Kienemann, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Historische Stereotypenforschung an der Universität Oldenburg, ist dieser Frage in seiner Promotion nachgegangen. Im Interview spricht der Historiker über den kolonialen Osteuropadiskus, sein Quellenmaterial und die Stereotypen, die die Zeit des Deutschen Kaiserreichs bestimmten.
"Interesse für Stereotype über Osteuropa"
L.I.S.A.: Lieber Herr Dr. Kienemann, in Ihrer aktuellen Publikation beschäftigen Sie sich mit dem deutschen Osteuropadiskurs zur Zeit des Kaiserreichs. Woher rührt Ihr Interesse an diesem – von der Forschung lange nicht beachteten – Thema?
Dr. Kienemann: Während meines Studiums in Oldenburg erhielt ich die Gelegenheit, am Doktorandenkolloquium meines späteren Doktorvaters Prof. Hans Henning Hahn teilzunehmen. Wir haben uns dort u. a. mit Larry Wollfs „Inventing Eastern Europe“ befasst, wodurch mein Interesse für Stereotype über Osteuropa geweckt wurde. Zu dieser Zeit gab es, ausgehend von der US-amerikanischen Germanistik, erste Wissenschaftler, die das deutsche Verhältnis zu Osteuropa kolonial interpretierten. Durch diese Anregungen entstand die Idee zu einer Studie, die die Frage klären sollte, ob der deutsche Osteuropadiskurs als kolonialer Diskurs gelesen werden kann.